Hirtenbrief zur Fastenzeit 1999

Vom Vater umarmt - GOTTVATER UND DAS BUSSSAKRAMENT

Hirtenbrief zur Fastenzeit 1999 von Msgr. Wolfgang Haas, Erzbischof von Vaduz

(Der Hirtenbrief ist am 3. Fastensonntag, 6./7. März 1999, in allen Gottesdiensten zu verlesen. Er kann auch auf zwei Fastensonntage verteilt vorgelesen werden. Zur Veröffentlichung in der Presse ist er vom 8. März 1999 an freigegeben.)

Liebe Brüder und Schwestern im Herrn!

„Die Stunde kommt, und sie ist schon da, zu der die wahren Beter den Vater anbeten werden im Geist und in der Wahrheit; denn so will der Vater angebetet werden. Gott ist Geist, und alle, die ihn anbeten, müssen im Geist und in der Wahrheit anbeten“1. Ja, die Stunde der Anbetung des wahren Gottes ist da! Jesus, der Sohn Gottes, hat uns gelehrt, seinen Vater als unseren Vater zu erkennen und anzubeten. Die wahren Beter beten den dreifaltigen Gott an, den Vater und den Sohn und den Heiligen Geist. Sie beten im Geist und in der Wahrheit den Vater an, „den Allmächtigen, der alles geschaffen hat, Himmel und Erde, die sichtbare und die unsichtbare Welt“2. Sie beten den an, von dem der Apostel Paulus schreibt: „Alle, die sich vom Geist Gottes leiten lassen, sind Söhne Gottes. Denn ihr habt nicht einen Geist empfangen, der euch zu Sklaven macht, so dass ihr euch immer noch fürchten müsstet, sondern ihr habt den Geist empfangen, der euch zu Söhnen macht, den Geist, in dem wir rufen: Abba, Vater!“3. Welche Freude und welche Würde für uns Kinder Gottes, den allheiligen, allmächtigen, allgewaltigen, allwissenden Gott „Abba“, „lieber Vater“ nennen und ihn als solchen lieben zu dürfen! Welch wunderbare Berufung für die, welche in der Taufe das Geschenk der Gotteskindschaft empfangen haben und in der Firmung den Geist der Gotteskindschaft erneuern durften! Welch grosser Auftrag für uns, die wir uns immer wieder mit dem himmlischen Vater im Busssakrament versöhnen lassen und am Werk der Versöhnung teilhaben dürfen4. Mit dem Völkerapostel rufe ich Euch allen zu: „Wir bitten an Christi Statt: lasst euch mit Gott versöhnen!“5. Den wahren Anbetern Gottes steht es an, sich ständig mit Gott versöhnen zu lassen und selber den Dienst der Versöhnung wahrzunehmen. Jene, die den Vater im Geist und in der Wahrheit anbeten, können diese Anbetung nur dann in rechter Weise und auf wirksame Art vollziehen, wenn sie mit dem Vater im Himmel versöhnt sind. Wir alle sind auf der grossen Pilgerschaft zum Haus des Vaters, bei der wir besonders dessen Liebe zum „verlorenen Sohn“6 stets neu entdecken. Papst Johannes Paul II., der das dritte und letzte Vorbereitungsjahr auf das Jubiläum 2000 namentlich dem Geheimnis von Gottvater gewidmet wissen möchte, will alle dazu anregen, „in Anhänglichkeit an Christus, den Erlöser der Menschen, einen Weg echter Umkehr zu beschreiten“7 und das Busssakrament in seiner Unverzichtbarkeit und in seiner tiefen Bedeutung wiederzuentdecken. Denn „Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott, und Gott bleibt in ihm“8. So können wir mit dem Apostel Johannes ausrufen: „Seht, wie gross die Liebe ist, die der Vater uns geschenkt hat: Wir heissen Kinder Gottes, und wir sind es“9. Als wahre Kinder Gottes und als echte Anbeter des himmlischen Vaters erkennen wir sowohl unsere Würde als auch unser Versagen angesichts dieser Würde. Wir erkennen und bekennen, dass wir Sünder sind und der Versöhnung mit Gott und untereinander bedürfen. Diese Versöhnung müssen wir uns schenken lassen. Sie ist nicht unsere Leistung und schon gar nicht unser Verdienst. Sie ist Gabe dessen, den wir „Abba“ nennen dürfen und der uns mit seiner liebenden Umarmung entgegen­kommt.

1. Die entgegenkommende Liebe des Vaters

Das Gleichnis vom verlorenen Sohn ist in jeder Einzelheit bedeutsam. Da heisst es im Blick auf diesen: „Der Vater sah ihn schon von weitem kommen, und er hatte Mitleid mit ihm. Er lief dem Sohn entgegen, fiel ihm um den Hals und küsste ihn“10. Der Vater ahnt es, ja er weiss es offenbar: Der Sohn kehrt reumütig zum Vaterhaus zurück. Er kommt nicht mit einer billigen Rechtfertigung und mit neuen Ansprüchen herbei. Er gesteht schlicht und einfach, und zwar ganz ehrlich: „Vater, ich habe mich gegen den Himmel und gegen dich versündigt“11. Er ist sich bewusst: Jede Sünde ist zunächst und zuerst eine Sünde gegen den Himmel, gegen das ewige Ziel, gegen den vollen und vollendeten Heilsstand, in dem der Wille Gottes vollkommen verwirklicht ist. Wie der Wille des Vaters im Himmel ununterbrochen und uneingeschränkt geschieht, so soll er auch auf Erden geschehen. Mit jeder schweren Sünde sind wir dabei, das ewige Ziel zu verfehlen und in den Abgrund zu stürzen. Nur wenn wir umkehren, bereuen und bekennen, können wir gerettet werden. Ohne innere und äussere Umkehr fehlt uns die Blickrichtung hin zum Vater. Ohne Rückbesinnung auf den, von dem wir ausgegangen sind, von dem wir alles haben und dem wir alles verdanken, gelingt die Heimkehr nicht. Wir sind also aufgerufen, uns auf unsere Sünden zu besinnen, ehrliche Gewissenserforschung zu halten und die wahre Zielrichtung einzuschlagen. Die entgegenkommende Liebe des himmlischen Vaters bietet uns die Chance, wieder ans wahre Ziel zu gelangen, von dem wir uns durch Sünde und Schuld entfernt haben; sie lockt uns nach Hause, wo der Vater wohnt. Damit wir auf dem oft mühsamen Weg dorthin nicht stehen und stecken bleiben, nicht wieder eine falsche Richtung einschlagen oder ermüden und erliegen, kommt uns der Vater liebevoll entgegen. Er sieht uns schon von weitem kommen, und wäre bei uns auch nur ein bisschen guter Wille sichtbar. Er weiss, wie weit oft unser Weg ist, wenn wir uns lange Zeit und auf weiten Strecken entfernt haben. Er weiss, wieviel Kraft wir brauchen, um ans gute Ziel zu gelangen. Er weiss, wie schwach wir sind, wenn uns persönliche Schuld niederdrückt. Er weiss um die drohenden Gefahren unterwegs, auch wenn wir mit gutem Willen den guten Heimweg eingeschlagen haben. So läuft er uns also in väterlicher Liebe entgegen. Ja, das ist die wahre Vaterliebe: Liebe, die nie stehen bleibt; Liebe, die nicht einfach nur abwartet; Liebe, die gerade nicht unbeteiligt bleibt. Gottes barmherzige Liebe ist initiativ. Sie handelt entgegenkommend. Sie hat es sogar eilig, wenn das Verlangen nach Versöhnung da ist. Sie scheut den Weg zu uns Sündern nicht, wenn wir ehrlich bereuen und bekennen wollen.

Sündiger Mensch, das ist das Erste, was du wissen musst: Der Vater im Himmel kommt dir voll Liebe entgegen, wenn du dich zu ihm aufmachst. Er geht auf dich zu, wenn er deinen Willen zur Umkehr entdeckt. Er nähert sich dir ein grosses Stück, wenn er deine Ehrlichkeit spürt und deine gute Absicht zum Neubeginn erkennt. Doch auf deinen guten Willen und deine Ehrlichkeit kannst du nicht verzichten und will auch der barmherzige Vater nicht verzichten. Denn er nimmt dich in deiner Freiheit ernst und übergeht deine persönliche Entscheidung nicht. Ohne Reue und ohne aufrichtiges Bekenntnis deinerseits gibt es keine wahre Versöhnung. Ohne deine Umkehr und ohne deinen guten Vorsatz ist Verzeihung nicht möglich. Du hast also bei der Sündenvergebung einen wesentlichen Beitrag zu erbringen. Der gütige Vater macht es nicht ohne dich. Er tut es mit dir zusammen, und zwar ganz persönlich und jedesmal eigentlich einmalig. Du beichtest persönlich, und du empfängst die Lossprechung persönlich. Du beichtest immer wieder neu, und du empfängst die Lossprechung auch immer wieder neu.

2. Die umarmende Liebe des Vaters

Büssen und Beichten als Ausdruck wahrer Umkehr haben es mit Streben nach Heiligkeit zu tun. Sie sind nicht nur äusseres Verhalten, sondern vor allem Ausdruck einer inneren Haltung, die auf Vollkommenheit ausgerichtet ist. So sagt etwa die heilige Therese von Lisieux: „Die Heiligkeit besteht nicht in dieser oder jener Übung, sondern sie ist eine Gesinnung des Herzens, die uns demütig macht und klein in den Armen Gottes; durch sie sind wir uns unserer Schwachheit bewusst und vertrauen bis zur Verwegenheit auf seine Vatergüte“12. Wie der verlorene Sohn lassen wir uns bei jeder Beichte vom himmlischen Vater umarmen - von ihm, den wir im Geist und in der Wahrheit anbeten. Demütig und klein fühlen wir uns in den Armen unseres himmlischen Vaters, der reich ist an Erbarmen und grosszügig im Verzeihen. Die Umarmung durch den Vater, der dem verlorenen Sohn um den Hals fällt und ihn küsst, ist nicht trügerisch wie so manche menschliche Umarmung. Sie kennt keine Tücke, keine Unlauterkeit, keine Täuschung, keine Lüge, keine Vereinnahmung, keine Gewalttätigkeit, kein Besitzen- und Habenwollen. Sie ist lauter und aufrichtig; denn sie achtet die Freiheit des Umarmten und richtet den Gebeugten auf. Der väterliche Gott blickt uns bei seiner Umarmung aus Liebe in die Augen. Er sitzt uns nicht gewalttätig im Nak-ken; er fällt uns nicht heimtückisch in den Rücken; er umgarnt uns nicht verführerisch und in unlauterer Absicht. Bei ihm ist alles klar und wahr. Die Umarmung des Vaters entspricht seinem innersten Wesen; denn Gott ist die Liebe. In dieser liebenden Umarmung durch den Vater wird uns seine Herzlichkeit offenbar.

Sündiger Mensch, du brauchst dich also nicht zu fürchten, wenn du dem himmlischen Vater im Busssakrament begegnest. Er umarmt dich herzhaft und lässt dich in jeder heiligen Beichte erkennen, wie sehr du von ihm geliebt bist, ja dass du sogar zu seinen auserwählten Heiligen gehörst13. Er lässt dich neu deine Würde als Gotteskind erkennen und beantwortet deinen freien Entschluss zur Heimkehr ins Vaterhaus mit seiner Herzensliebe. Du darfst in seinen Armen geborgen sein und die Freude der Versöhnung erleben.

3. Die feiernde Liebe des Vaters

Der Vater freut sich über die Heimkehr des verlorenen Sohnes und stattet den Versöhnten mit all dem aus, was ihn zum frohen Fest bereitet. Er sagt von ihm: „Mein Sohn war tot und lebt wieder; er war verloren und ist wiedergefunden worden“14. Dem älteren Sohn, der zunächst die Festfreude wegen seines jüngeren Bruders nicht verstehen kann und dem Vater deshalb vorwurfsvoll begegnet, sagt dieser: „Mein Kind, du bist immer bei mir, und alles, was mein ist, ist auch dein. Aber jetzt müssen wir uns doch freuen und ein Fest feiern; denn dein Bruder war tot und lebt wieder; er war verloren und ist wiedergefunden worden“15. Die verzeihende Liebe des Vaters drängt zur Feier. Wo Versöhnung geschieht, da gibt es Grund zum Feiern. Schon im menschlichen Bereich geht es oft festlich zu, wenn Frieden geschlossen wird und Aussöhnung stattfindet. Mancher Ehekrach mündet in ein Fest, wenn es zur Versöhnung gekommen ist. Mancher Familienstreit endet in einer Feier, wenn der Friedensschluss erfolgt ist. Wenn der himmlische Vater uns die Sünden vergeben hat und uns mit seiner bergenden Liebe umfängt, dann ist wahrlich Feierstunde. Es ist der Vater selber, der das Fest veranstaltet. Seine erbarmende Liebe drängt ihn über die Vergebung hinaus zu einer liebenden Zutat. Die Freude des Vaters über die Bekehrung eines Menschen ist so gross, dass er eine Festfeier veranlasst. So können wir einigermassen ermessen, welche Freude im Himmel herrscht, wenn sich ein Sünder bekehrt. Wenn wir uns mit Gott versöhnt haben, wird auch uns das Festmahl der heiligen Eucharistie zuteil. Die heilige Kommunion ist freudvolle Anteilgabe am göttliche Leben, das uns der gekreuzigte und auferstandene Herr schenkt. Wenn wir ihn mit Mund und Herz empfangen, dann müssen wir uns darauf ehrfürchtig vorbereiten und uns der heiligen Speise würdig erweisen. Die heilige Kommunion ist die höchste und schönste Vereinigung mit dem Sohne Gottes selber, der sich für uns hingegeben hat und sich mit uns unablässig dem Vater darbringt und verdankt. In ihm und durch ihn und mit ihm sind wir die wahren Anbeter des himmlischen Vaters. Nur in Einheit mit ihm beten wir im Geist und in der Wahrheit an, wie es den Kindern Gottes ansteht. Nur wer sich durch Jesus Christus mit Gott hat versöhnen lassen - und dies durch den Empfang des Busssakramentes, besitzt jene wiederhergestellte Würde, die zum Empfang der heiligen Kommunion nötig ist. Nur wer in der Gnade Gottes lebt, darf sich mit dem im Altarssakrament gegenwärtigen Sohn vereinen und sich so dem himmlischen Vater ganz verdanken. „Christus hat das Busssakrament für alle sündigen Glieder seiner Kirche eingesetzt, vor allem für jene, die nach der Taufe in schwere Sünde gefallen sind und so die Taufgnade verloren und die kirchliche Gemeinschaft verletzt haben. Ihnen bietet das Sakrament der Busse eine neue Möglichkeit, sich zu bekehren und die Gnade der Rechtfertigung wiederzuerlangen“16. „Die individuelle, vollständige Beichte der schweren Sünden und die darauf folgende Lossprechung ist das einzige ordentliche Mittel zur Versöhnung mit Gott und der Kirche“17. Es geht also um eine ernsthafte Bekehrung, damit die freudvolle Feier der Versöhnung möglich wird. Der Völkerapostel fordert bekanntlich zu einer unumgänglichen Gewissenserforschung auf, wenn er schreibt: „Wer also unwürdig von dem Brot isst und aus dem Kelch des Herrn trinkt, macht sich schuldig am Leib und am Blut des Herrn. Jeder soll sich selbst prüfen; erst dann soll er von dem Brot essen und aus dem Kelch trinken. Denn wer davon isst und trinkt, ohne zu bedenken, dass es der Leib des Herrn ist, der zieht sich das Gericht zu, indem er isst und trinkt“18. Die Teilnahme am Freudenmahl der heiligen Kommunion setzt eine Vorbereitung voraus, die der Würde und Grösse des Altarssakramentes entspricht. Da darf es keine Oberflächlichkeit, keine Beliebigkeit, kein Anspruchsdenken, keine Rechthaberei geben.

Sündiger Mensch, du vernimmst den Ruf „Selig, die zum Hochzeitsmahl des Lammes geladen sind“ und du folgst diesem Ruf, wenn du durch Busse und Umkehr für den Empfang der heiligen Kommunion vorbereitet bist. Du erlebst dann ein wirkliches Freudenfest, wenn du mit Gott versöhnt an den Tisch des Herrn trittst. Nur so wird dir die feiernde Liebe des himmlischen Vaters zuteil und wirkt in dir die Kraft zur Gottes- und Nächstenliebe. Lass dich also immer neu mit Gott versöhnen und komm als mit Gott versöhnter Mensch zum Gastmahl der Liebe!

Wie wohltuend ist die entgegenkommende, umarmende und feiernde Liebe des himmlischen Vaters, den wir im Geist und in der Wahrheit anbeten und zu dem wir „Abba“, „lieber Vater“ sagen dürfen! Als Kinder Gottes haben wir auch eine Mutter, zu der wir uns gerade als Sünder hinwenden dürfen. Maria, die Zuflucht und Wiederversöhnerin der Sünder, führt uns geradlinig auf den Weg zur Heimkehr ins Vaterhaus. Sie hilft uns auf der Pilgerschaft zum Hause des Vaters; denn sie ist dessen erwählte Tochter und will nichts anderes, als dass wir dort zuhause sind, von wo wir ausgingen. Im Vertrauen auf die Fürsprache der seligen Jungfrau und Gottesmutter Maria segne ich Euch alle.

Schellenberg, 11. Februar 1999

+ Wolfgang Haas, Erzbischof von Vaduz

 

1           Joh 4,23-24

2           Aus dem Credo der heiligen Messe

3           Röm 8,14-15

4           Vgl. 2 Kor 5,18

5           2 Kor 5,20

6           Vgl. Lk 15,11-32

7           Papst Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben „Tertio Millennio Adveniente“ vom 10. November 1994, Nr. 50

8           1 Joh 4,16b

9           1 Joh 3,1

10         Lk 15,20

11         Lk 15,18; Luk 15,21

12         Therese von Lisieux, Ihr Leben und ihr „kleiner Weg“ in 365 Selbstzeugnis-sen, hrsg. v. Waltraud Herbstrith, München-Zürich-Wien 1997, S. 72

13         Vgl. Kol 3,12

14         Lk 15,24

15         Lk 15,31-32

16         Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 1446

17         Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 1497

18         1 Kor 11,27-29