Hirtenbriefe zur Fastenzeit

Hirtenbrief zur Fastenzeit 2023

Bis zum Ende standhaft

Liebe Brüder und Schwestern im Herrn!

Es war bald nach Beginn meines Amtsantrittes als Bischof von Chur, also vor über 32 Jahren, als ich eines Sonntags in der Innerschweiz an einer Strassengabelung im Anblick einer idyllisch gelegenen Kapelle stand und über deren Eingang eine einprägsame Inschrift entdeckte, die da lautet: “Maria zur guten Wende”. Eine solche Bezeichnung der Mutter Jesu hatte ich zuvor noch nie gehört oder gelesen. So war ich doch recht gespannt darauf zu sehen, ob es in diesem kleinen Marienheiligtum ein besonderes Gnadenbild zu betrachten gäbe. Was aber zeigte sich meinen Augen? Eine stattliche Kreuzigungsgruppe, in der Mitte unter dem Kruzifix eine Pietà. Das machte mich nachdenklich. Warum “Maria zur guten Wende”? Bekanntlich gab Jesus vom Kreuz herab dem Apostel und Evangelisten Johannes, seinem Lieblingsjünger, die eigene Mutter zu dessen Mutter. “Frau, siehe, dein Sohn!” – “Siehe, deine Mutter!”[1] Unser Glaube erkennt darin das wunderbare Vermächtnis von Jesu jungfräulicher Mutter an seine bräutliche Kirche. Das ist die grosse Wende der Mutter des Gottessohnes zur Mutter der Kirche. Und diese gnadenvolle Wende wird somit zum Grund und Anlass unserer guten Wende vom Unerlösten zum Erlösten, vom Sünder zum Heiligen, vom Unversöhnten zum Versöhnten. Der aus dem Schoss Marias hervorging und nun nach der Kreuzesabnahme als der für uns und zu unserem Heil Gestorbene wieder auf dem Schoss Marias liegt, ruft uns bei der Betrachtung dieser Pietà-Darstellung zur Umkehr, also zur guten Wende in unserem Leben. Seine barmherzige Mutter tritt bei ihm fürbittend für uns ein. Diese stete Wende aus Sünde, Schuld und Tod zur persönlichen Heiligung, zu christlicher Tugend und zu übernatürlichem Leben besagt: Bis zum Ende standhaft bleiben – so wie Maria zusammen mit dem Lieblingsjünger Jesu aufrecht stand unter dem Kreuz.[2]

Der Herr setzt seine Jünger voll ins Bild über die Bedrohungen und Gefährdungen, ja sogar über die Misshandlungen und Hasserfahrungen, die ihnen bevorstehen und die durch alle Zeiten hindurch nie aufhören werden.[3] Er lässt die Seinen nicht im Unklaren: “Ihr werdet um meines Namens willen von allen gehasst werden; wer aber bis zum Ende standhaft bleibt, der wird gerettet.”[4] Es besteht in der Nachfolge Jesu eine Radikalität, die weder klein- noch schöngeredet werden kann. Sie gehört geradezu zum Eigentümlichen der Verähnlichung mit der Person Jesu und der Angleichung an sein Leben. Sie ist die geforderte und unausweichliche Nachahmung seiner Sendung zur Rettung der Seelen. Da ist nichts drin von faulen Kompromissen mit dem sogenannten Zeitgeist, von behaglichem Wohlbefinden, von esoterischen Praktiken der Selbsterlösung.

  1. Bis zum Ende standhaft – im wahren Glauben

Wer gewohnt ist, den Rosenkranz zu beten, weiss, dass wir dessen Gesätzchen nach dem Glaubensbekenntnis die Bitte an Jesus voranstellen, er möge in uns den Glauben – den wahren Glauben – vermehren; er möge in uns die Hoffnung – die christliche Hoffnung – stärken; er möge in uns die Liebe – die göttliche Liebe – entzünden. Die Betonung auf “wahr” zu legen, wenn es um unseren Glauben geht, ist zu jeder Zeit, besonders aber heutzutage, wo wir so viel Verwirrung und Verirrung erleben, von besonderem Gewicht. Jedem, der in die zeitgenössischen kirchlichen Diskussionen und Debatten Einblick hat, wird schnell klar, dass die Wahrheitsfrage in eine Schieflage geraten ist und dem Diktat des Relativismus unterliegt. Die berühmte Pilatus-Frage: “Was ist Wahrheit?”[5] ist für viele so zweifelbeladen und skepsisbelastet wie bei dem, der aus Feigheit und Menschenfurcht, aus Karrieregründen und Popularitätshascherei das ungerechte Urteil gefällt hat.

Doch Jesus, der selbst die Wahrheit ist, nimmt damals wie heute und auch in Zukunft nichts von dem zurück, was er vor Pilatus unmissverständlich ausgesprochen hat: “Ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme.”[6] Jesu Standhaftigkeit im Zeugnis für die Wahrheit kostet ihn das irdische Leben. Für diese göttliche Wahrheit stirbt Jesus den Martertod. Es werden ihm dies unzählige Blutzeugen im Verlaufe der Kirchengeschichte gleichtun. Auch wir als Christgläubige sind eingeladen und aufgerufen, ja geradezu erwählt und ausersehen, für die volle Wahrheit Zeugnis abzulegen – für Jesus Christus und seine Heilsbotschaft, wie sie uns aufgrund der Offenbarung durch unsere Kirche unverkürzt und unveränderlich verkündet wird. Die lehramtlich gesicherte Glaubensweitergabe ermutigt und bestärkt uns darin, bis zum Ende standhaft zu bleiben.

Durch Taufe und Firmung sind wir erwählte Kinder Gottes, die schliesslich “die Liebe, die Gott zu uns hat, erkannt und gläubig angenommen”[7] haben. Im Taufgelöbnis, das wir dann und wann erneuerten und wiederholten, haben wir dem Satan, all seinen Werken und all seinem Gepränge eine Absage erteilt und unseren Glauben an den Dreifaltigen Gott und sein Heilswirken bekundet. Die Frage, die sich einem jeden von uns stellt, ist schlicht und einfach folgende: Sind wir diesem Taufversprechen treu geblieben? Leben wir aus der Tauf- und Firmgnade? Bezeugen wir mutig, was wir durch das Geschenk der Gotteskindschaft sind? Haben wir noch einen klaren Begriff davon, was dem Geist der Wahrheit und was dem Geist des Irrtums entspricht? Der Apostel sagt: “Alles, was aus Gott gezeugt ist, besiegt die Welt. Und das ist der Sieg, der die Welt besiegt hat: unser Glaube.”[8] Der Glaube, und zwar der wahre Glaube, schenkt immer die gute Wende.

  1. Bis zum Ende standhaft – in der christlichen Hoffnung

In so manchem Seelsorgegespräch musste ich die Aussage hören: “Der oder die ist ein hoffnungsloser Fall” oder etwa “Bei dem oder der habe ich die Hoffnung aufgegeben” oder auch “Für den oder die habe ich keine Hoffnung mehr”. Solche Bemerkungen bezogen sich meist auf Personen, die in schweren Suchtproblemen stecken und bei denen es – menschlich betrachtet – keine Aussicht auf Besserung oder Änderung mehr zu geben schien. Eben menschlich betrachtet! Wo jemand eine Situation als ausweglos erfährt oder ansieht, stellt sich jene verhängnisvolle Frustration ein, bei der offenbar Hoffnung keinen Platz mehr findet. Nun sind wir als Christen gefragt und herausgefordert. Denn uns wird im Vertrauen auf Gottes Allmacht und Güte jene Hoffnung wider alle Hoffnung zugemutet, von welcher der Völkerapostel spricht.[9]

Die Schöpfung und in ihr der Mensch sind ohnehin der Vergänglichkeit unterworfen; aber uns ist in Jesus Christus, dem Erlöser, Hoffnung geschenkt. “Denn wir sind gerettet, doch in der Hoffnung.”[10] Es gehört zu unserer gläubigen Grundausstattung, wonach “wir wissen, dass Gott bei denen, die ihn lieben, alles zum Guten führt.”[11] Diese Glaubensgewissheit, die in der zuversichtlichen Hoffnung auf die göttliche Erlöserliebe gründet, veranlasst uns stets aufs neue, denen Mut zu machen, die sich am Ende ihrer Hoffnung wähnen. Ihnen dürfen wir versichern, dass es im Vertrauen auf Gottes Vorsehung und Heilswillen immer auch dort noch Hoffnung gibt, wo alles hoffnungslos erscheint. So kann der Apostel Paulus in seinem ersten Brief an die Thessalonicher schreiben: “Wir danken Gott für euch alle, sooft wir in unseren Gebeten an euch denken; unablässig erinnern wir uns vor Gott, unserem Vater, an das Werk eures Glaubens, an die Opferbereitschaft eurer Liebe und an die Standhaftigkeit eurer Hoffnung auf Christus, unseren Herrn.”[12]

Man sagt üblicherweise: Not lehrt beten. Wir dürfen ebenso sagen: Hoffnung lehrt beten. Deswegen ist es nie ein billiger Trost, wenn wir den Menschen, die in vielfältigen Nöten sind und die gerade auch die grosse Not der Hoffnungslosigkeit angesichts scheinbar unlösbarer Sorgen und Probleme kennen, unser Gebet versprechen. Solches Beten beruht auf der christlichen Hoffnung, dass Gott in seiner Allmacht das Unmögliche möglich machen kann. So helfen wir zuversichtlich unseren verzagten und verzweifelten Mitmenschen und nicht zuletzt auch uns selber, die wir gelegentlich in Niedergeschlagenheit und Mutlosigkeit geraten können, mit unserem Gebet. Es trifft eben immer zu: Nur den Betern kann es noch gelingen, hoffnungsvoll und sogar hoffnungsfroh standhaft zu bleiben bis zum Ende und bis zur guten Wende.

Dabei sind wir nicht allein auf uns selbst gestellt. In der Gemeinschaft der Heiligen, die samt und sonders Hoffnungsträger sind, finden wir – zusätzlich zu unseren Schutzengeln – starke Helfer und Fürbitter am Throne Gottes; einige von ihnen sind diesbezüglich geradezu ausersehen für verzweifelte Situationen, in aussichtslosen Nöten, für hoffnungslos Fälle.[13] Glaubwürdig wird unser Beten dann, wenn wir uns in der Gnade Gottes, also in der heiligmachenden Gnade, befinden. Diese “erzieht uns dazu, uns von der Gottlosigkeit und den irdischen Begierden loszusagen und besonnen, gerecht und fromm in dieser Welt zu leben, während wir auf die selige Erfüllung unserer Hoffnung warten: auf das Erscheinen der Herrlichkeit unseres grossen Gottes und Retters Christus Jesus.”[14]

  1. Bis zum Ende standhaft – in der göttlichen Liebe

Welch schönen Zusammenhang und welch harmonischen Zusammenklang von Glaube, Hoffnung und Liebe hat uns doch der Völkerapostel im Römerbrief aufgezeigt! Er schreibt: “Gerecht gemacht aus Glauben, haben wir Frieden mit Gott durch Jesus Christus, unseren Herrn. Durch ihn haben wir auch den Zugang zu der Gnade erhalten, in der wir stehen, und rühmen uns unserer Hoffnung auf die Herrlichkeit Gottes. Mehr noch, wir rühmen uns ebenso unserer Bedrängnis; denn wir wissen: Bedrängnis bewirkt Geduld, Geduld aber Bewährung, Bewährung Hoffnung. Die Hoffnung aber lässt nicht zugrunde gehen; denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist.”[15] Mit diesen Worten werden wir in das Geheimnis der göttlichen Dreifaltigkeit gleichsam eingetaucht, wovon die heilige Katharina von Siena betend bekennt: “O ewige Gottheit, o ewige Dreieinigkeit! Du hast bewirkt, dass das Blut deines einzigen Sohnes durch die Vereinigung mit der göttlichen Natur ein so wertvoller Preis ist! Du, ewige Dreifaltigkeit, bist gewissermassen ein tiefes Meer, in dem ich immer Neues entdecke, je länger ich suche. Und je mehr ich finde, desto mehr suche ich dich.”[16] Durch diese Gedanken, die einer mystischen Versenkung in das Liebesgeheimnis der göttlichen Dreifaltigkeit entspringen, werden wir dazu hingeführt, die beständige und unerschöpfliche Neuheit unserer Gottesbeziehung zu entdecken. So kann es durch die Gnade, “in der wir stehen,”[17] gar nicht anders sein, als dass wir in der göttlichen Liebe und durch diese göttliche Liebe bis zum Ende standhaft bleiben.

Die Ausdauer bis zum guten Ende schliesst die Ausdauer in guten Werken mit ein. Das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe ist in sich derart verknüpft, dass der Vorrang der Gottesliebe seine Echtheit in der Verwirklichung der Nächsten-liebe erweist. So ist es nur konsequent, wenn wir aus Liebe zu Gott unsere Mitmenschen lieben, ihnen dienen und nach Kräften helfen. Im ersten Johannesbrief lesen wir die deutliche Mahnung: “Wir haben die Liebe, die Gott zu uns hat, erkannt und gläubig angenommen ... wir wollen lieben, weil er uns zuerst geliebt hat. Wenn jemand sagt: Ich liebe Gott!, aber seinen Bruder hasst, ist er ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, kann Gott nicht lieben, den er nicht sieht. Und dieses Gebot haben wir von ihm: Wer Gott liebt, soll auch seinen Bruder lieben.”[18] Gott, der “die Liebe ist,”[19] verlangt viel von uns; er gibt dazu aber auch seine Gnade; er schenkt uns dazu den Heiligen Geist. Für Gott genügt eine bloss philantropische Sympathie oder Empathie nicht, so sehr daraus auch Gutes hervorgehen mag. Gott, der reich ist an Erbarmen, erwartet mehr. Er hat uns in seinem Sohn die erlösende Kraft der gekreuzigten Liebe kundgetan. Der wahre und einzige Erlöser der Welt, Jesus Christus, hat uns jene barmherzige Liebe am Kreuz erwiesen, die weit über alle bloss menschliche Liebe hinausgeht. Denn sie ist verzeihende Liebe. Für seine Botschaft der göttlichen Wahrheit und Liebe blieb der Herr standhaft bis zum Ende, um durch seine Ganzhingabe am Kreuz den Tod zu erleiden und zugleich zu überwinden, um Sünde und Teufel zu besiegen und zugleich das Tor zum neuen und ewigen Leben zu öffnen. Damit steht uns beständig das Ziel unserer irdischen Pilgerschaft vor Augen, wenn wir bis zum Ende standhaft bleiben im wahren Glauben, in der christlichen Hoffnung und in der göttlichen Liebe. Unser Ziel ist es schliesslich, in den Himmel zu kommen. Dabei haben wir durch den Sohn Gottes selbst, der die Seinen liebte und liebt bis zur Vollendung, die Gewissheit, dass er bei uns ist alle Tage bis zum Ende der Welt.[20]

Diese Betrachtung, der mein Hirtenbrief gewidmet ist, will uns alle im Glauben, in der Hoffnung und in der Liebe zur Ausdauer ermutigen. So empfehlen wir uns Maria, der Mutter von der guten Wende, und bitten sie, die stets standhaft geblieben ist, um ihre Fürsprache beim Dreifaltigen Gott für ein gutes Ende.

Schellenberg, am Fest der Bekehrung des Apostels Paulus, 25. Januar 2023

                                                             ✠ Wolfgang Haas
                                                                Erzbischof von Vaduz

 

[1] Joh 19,26-27.
[2] Vgl. Sequenz “Stabat Mater dolorosa”.
[3] Siehe Mt 16,16-39.
[4] Mt 10,22.
[5] Joh 18,38.
[6] Joh 18,37.
[7] 1Joh 4,16.
[8] 1Joh 5,4.
[9] Vgl. Röm 4,18.
[10] Röm 8,24.
[11] Röm 8,28.
[12] 1Thess 1,2-3.
[13] Vgl. z.B. den hl. Apostel Judas Thaddäus (Fest: 28. Oktober) und die hl. Rita von Cascia (Gedenktag: 22. Mai).
[14] Tit 2,12-13.
[15] Röm 5,1-5.
[16] Hl. Katharina von Siena, Dialogus “De divina Providentia”, cap. 167.
[17] Röm 5,2.
[18] 1Joh 4,16a.19-21; vgl. auch 1Joh 2,3-11.
[19] Vgl. 1Joh 4,8; 4,16b.
[20] Vgl. Mt 28,20.

Hirtenbrief zur Fastenzeit 2022

Von Anfang an

                                                                    

Liebe Brüder und Schwestern im Herrn!

Nach gut 33 Jahren bischöflichen Dienstes und im Ausblick auf das herannahende 75. Lebensjahr erfüllt mich einerseits eine tiefe Dankbarkeit für die vielen Gnaden und Wohltaten, die mir unverdientermassen zuteil wurden. Andererseits macht sich in meinem Herzen vermehrt eine Nachdenklichkeit bemerkbar, die sich aus meiner Verantwortung für das Heil der meiner Hirtensorge anvertrauten Menschen ergibt. Von Anfang an war mir freilich bewusst, dass das Bischofsamt nicht zur persönlichen Ehre empfangen wird, sondern dass es ein Dienst nach dem Vorbild unseres Herrn Jesus Christus darstellt, der nicht gekommen ist, um sich bedienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele.[1] Dem Beispiel des Guten Hirten folgend ist es stets die Aufgabe des Bischofs, die Seinen zu kennen und diesen zu ermöglichen, ihn kennen zu lernen.[2] Als Verwalter der Heilsgaben Christi leitet der Bischof die Kirche, die Gott ihm anvertraut hat, und wacht über sie. Noch höre ich die Fragen zur Willenserkundung, wie sie bei meiner Bischofsweihe an mich gerichtet wurden;[3] von Anfang an war ich diesbezüglich ganz Ohr und bin es geblieben:

- Bist du also bereit, mit der Gnade des Heiligen Geistes bis zum Tod in dem Amt zu dienen, das von den Aposteln auf uns gekommen ist und das wir dir heute durch Handauflegung übertragen?

- Bist du bereit, das Evangelium Christi treu und unermüdlich zu verkünden?

- Bist du bereit, das Glaubensgut rein und unverkürzt zu hüten, wie es von den Aposteln überliefert und in der Kirche immer und überall bewahrt wurde?

- Bist du bereit, am Aufbau der Kirche Christi, seines Leibes, zu arbeiten und in ihrer Einheit zu verharren, zusammen mit dem Bischofskollegium unter dem Nachfolger des heiligen Petrus?

- Bist du bereit, mit dem Nachfolger des Apostels Petrus in Gehorsam und Treue verbunden zu bleiben?

- Bist du bereit, zusammen mit deinen Mitarbeitern, den Presbytern und Diakonen, für das Volk Gottes wie ein guter Vater zu sorgen und es auf den Weg des Heiles zu führen?

- Bist du bereit, aus Liebe zum Herrn gegen die Armen, Heimatlosen und alle Notleidenden freundlich und barmherzig zu sein?

- Bist du bereit, den Verirrten als guter Hirte nachzugehen und sie zur Herde Christi zurückzuführen?

- Bist du bereit, für das Heil des Volkes unablässig zum allmächtigen Gott zu beten und das hohepriesterliche Amt untadelig auszuüben?

Auf diese Fragen zur Bereitschaftserklärung habe ich von Anfang an beherzt geantwortet: Ich bin bereit. Mit Gottes Hilfe bin ich bereit. Was ich von Anfang an bejaht habe, bemühte ich mich in all den Jahren meines bischöflichen Dienstes treu umzusetzen.

 

  1. Von Anfang an gewesen

Im ersten Johannesbrief werden wir mit dem, was von Anfang an[4] war und ist, was wir von Anfang an hatten und haben und was wir von Anfang an hörten und hören, eingehend vertraut gemacht. Schon der Prolog des Johannesevangeliums beginnt mit den Worten “Im Anfang[5] war das Wort” und eröffnet uns geheimnisvoll sozusagen den Anfang des Anfangs. In der Vorrede des ersten Johannesbriefes werden wir allsogleich auf das Wort des Lebens verwiesen: “Was von Anfang an war, was wir gehört, was wir mit unseren Augen gesehen, was wir geschaut und was unsere Hände angefasst haben vom Wort des Lebens – das Leben ist erschienen und wir haben gesehen und bezeugen und verkünden euch das ewige Leben, das beim Vater war und uns erschienen ist –, was wir gesehen und gehört haben, das verkünden wir auch euch, damit auch ihr Gemeinschaft mit uns habt. Wir aber haben Gemeinschaft mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus. Dies schreiben wir, damit unsere Freude vollkommen ist.”[6] Diese vom Heiligen Geist erleuchteten Worte machen deutlich, dass es für den Christgläubigen entscheidend und unumgänglich ist, das, was von Anfang an war, zu kennen und zu bezeugen, nämlich dass das aller Zeit vorausliegende Ewige Wort Gottes – die zweite göttliche Person – in der Fülle der Zeit aus Maria, der Jungfrau, Menschennatur angenommen hat. Damit hat sich der Sohn Gottes in endgültiger, unüberbietbarer und unüberholbarer Weise geoffenbart, um den göttliche Heilswillen allen kundzutun.

 Die Aussage “was von Anfang an war” lässt uns verstehen, dass es etwas gibt, was uns vorgegeben ist, was wir nicht selber konstruieren und fabrizieren können, was es zu bewahren und zu entfalten gilt. Dieses “etwas” ist ein Jemand, dessen konkreter Name für Zeit und Ewigkeit Jesus Christus heisst. Er allein ist der Weg und die Wahrheit und das Leben, so dass niemand zu seinem und unserem himmlischen Vater gelangt ausser durch ihn.[7] Der religiöse Absolutheitsanspruch des wahren christlichen Glaubens – dieser exklusive und zugleich inklusive Wahrheitsanspruch – ist keine Anmassung, sondern die logische und theologische Konsequenz aus der Selbstbezeugung Jesu. Er ist daher unumstösslich und kann nie Gegenstand von Kompromissen, Konsensdiskussionen und Dialogideen sein. Er kann und darf bei allen Bemühungen um Verständigung mit Andersgläubigen und Andersdenkenden nicht eingeebnet oder gar preisgegeben werden. Das hat jeder Bischof, dem als Diener Christi und Ausspender der Geheimnisse Gottes das Zeugnis für das wahre Evangelium anvertraut ist und am Herzen liegt, gelegen oder ungelegen, ob man es hören will oder nicht, zu vertreten. Dazu wurde auch ich bei der heiligen Weihe ermahnt; davon bin ich nach wie vor überzeugt; dazu bin ich bei aller Schwachheit, Sündhaftigkeit und Begrenztheit, die jedem Menschen anhaften, gesandt. Es ist das Credo der Kirche und ihrer heiligen Liturgie, das zu bekennen und zu verteidigen jeder katholische Bischof gehalten ist und das er gemäss der authentischen kirchlichen Lehrverkündigung zu bezeugen hat. Es gibt kein anderes Credo wie jenes, das im Schoss der Mutter Kirche von Anfang an verborgen war und aus ihr geborgen wurde – unter dem Beistand des Heiligen Geistes, der linear und kontinuierlich, ohne Brüche und Widersprüche in die volle Wahrheit einführt.

 

  1. Von Anfang an gehabt

Die wahre Gotteserkenntnis, wie sie uns in Jesus Christus geoffenbart ist, verlangt das konsequente Halten des Wortes Gottes und Seiner Gebote. “Wer sich aber an sein Wort hält, in dem ist die Gottesliebe wahrhaft vollendet; daran erkennen wir, dass wir in ihm sind. Wer sagt, dass er in ihm bleibt, muss auch einen Lebenswandel führen, wie er ihn geführt hat.”[8] Nun betont der erste Johannesbrief etwas, das uns zunächst sonderbar anmutet: “Geliebte, ich schreibe euch kein neues Gebot, sondern ein altes Gebot, das ihr von Anfang an hattet. Wiederum schreibe ich euch ein neues Gebot, was wahr ist in ihm und in euch, weil die Finsternis vergeht und das wahre Licht schon leucht. Wer sagt, er sei im Licht, aber seinen Bruder hasst, ist noch in der Finsternis. Wer seinen Bruder liebt, bleibt im Licht und in ihm gibt es keinen Anstoss. Wer aber seinen Bruder hasst, ist in der Finsternis und wandelt in der Finsternis und weiss nicht, wohin er geht; denn die Finsternis hat seine Augen blind gemacht.”[9] Das Neue des neuen Gebotes besteht offenbar nicht darin, das alte Gebot, das die Briefadressaten von Anfang an hatten und kannten, zu überwinden, sondern besteht vielmehr darin, es ins wahre Licht zu rücken, ins Licht der radikalen Nächstenliebe.

Allen, denen die Berufung zur Vaterschaft – sei es zur natürlichen oder zur übernatürlichen, damit vor allem zur geistlichen – eigen ist, wird in Erinnerung gebracht, dass sie doch den erkannt haben, “der von Anfang an ist.”[10] Sie dürfen also dieser im göttlichen Anfang gründenden Erkenntnis nicht ausweichen, um nicht in der Finsternis zu erblinden. Wer den erkannt hat, der von Anfang an ist, überwindet das Böse und empfängt im wahren Licht die Kraft, der widergöttlichen Welt zu entsagen. “Denn alles, was in der Welt ist, die Begierde des Fleisches, die Begierde der Augen und das Prahlen mit dem Besitz, ist nicht vom Vater, sondern von der Welt. Die Welt vergeht und ihre Begierde; wer den Willen Gottes tut, bleibt in Ewigkeit.”[11]

 Was man einmal von Anfang an gehabt hat, kann man oft schnell verspielen oder verlieren. Das trifft nicht nur auf Glücksspiele in einer sich immer mehr ausweitenden Casino-Landschaft zu, sondern kann durchaus auch in anderen Bereichen des menschlichen Daseins Platz greifen – nicht zuletzt sogar im Glaubensleben. Wer anfänglich etwa einen starken Glaubenseifer oder einen guten Gebetsgeist hatte, kann nur allzu schnell durch Nachgiebigkeit gegenüber weltlichen Versuchungen und Anfechtungen schwach, nachlässig oder oberflächlich werden, ja mitunter gar der Gnade verlustig gehen. Da kann nur eines helfen und heilen: eine echte Bekehrung, eine frohe Erneuerung im Glauben, eine gute Beichte.

Johannes, der Verfasser der Geheimen Offenbarung, erhält den Auftrag, an den Engel der Gemeinde von Ephesus zu schreiben: “Ich kenne deine Taten und deine Mühe und deine Geduld und weiss, dass du die Bösen nicht ertragen kannst. Du hast die auf die Probe gestellt, die sich Apostel nennen und es nicht sind, und hast sie als Lügner befunden. Du legst Geduld an den Tag und hast um meines Namens willen Schweres ertragen und bist nicht müde geworden. Aber ich habe gegen dich: Du hast deine erste Liebe verlassen. Bedenke, aus welcher Höhe du gefallen bist! Kehr zurück zu deinen ersten Taten!”[12] Die Rede von dieser “ersten Liebe” ist ein Hinweis auf das, was man von Anfang an hatte: liebende Hingabe, echte Begeisterung, standfeste Treue. Mancher wird sich fragen müssen: Wo sind sie geblieben – diese Grundlagen und Kräfte der Bindung und Verbindlichkeit, die sowohl in der Gottesbeziehung als auch im menschlichen Zu- und Miteinander wesentlich und wirksam sind? Bindungslosigkeit und Unverbindlichkeit erweisen sich als Scheinfreiheiten und stehen dem wahren Glück entgegen.

  

  1. Von Anfang an gehört

Die Kinder Gottes erkennt man an der aufrichtigen und lauteren Gottes- und Nächstenliebe. Wer die Gerechtigkeit, die dem Willen Gottes zu entsprechen sucht, nicht tut und seine Mitmenschen nicht liebt, ist nicht aus Gott. “Denn das ist die Botschaft, die ihr von Anfang an gehört habt: Wir sollen einander lieben und nicht wie Kain handeln, der von dem Bösen stammte und seinen Bruder erschlug. Warum hat er ihn erschlagen? Weil seine Taten böse waren, die Taten seines Bruders aber gerecht.”[13] Der Verweis auf den ersten Mord in der Menschheitsgeschichte, wie ihn die Heilige Schrift bezeugt, gibt eine Antwort auf die Frage, warum die Untat geschehen ist. Darin verbirgt sich der Neid, der zum tödlichen Hass führt. Das verschränkt gewissermassen diese Sünde mit einer noch allen Sünden der Menschen vorausgehenden Sünde. Kurz gesagt: “Wer die Sünde tut, stammt vom Teufel; denn der Teufel sündigt von Anfang an.”[14] Der aus neidvollem Stolz hervorgegangene Fall und Sturz Luzifers und seines Anhangs führt zu jenem verhängnisvollen Treiben des Satans und der Dämonen, welche die Menschen zur Sünde verführen und zur Rebellion gegen Gott und Seine Gebote anstacheln wollen. Und es gelingt ihnen wahrlich bei nicht wenigen vieles. “Der Sohn Gottes aber ist erschienen, um die Werke des Teufels zu zerstören. Jeder, der von Gott stammt, tut keine Sünde, weil Gottes Same in ihm bleibt, und er kann nicht sündigen, weil er von Gott stammt. Daran kann man die Kinder Gottes und die Kinder des Teufels erkennen: Jeder, der die Gerechtigkeit nicht tut und seinen Bruder nicht liebt, ist nicht aus Gott.”[15] So gilt denn auch von dieser göttlichen Abstammung, die ihren Grund in der Taufe und im Geschenk der heiligmachenden Gnade hat: “Er hat uns von seinem Geist gegeben. Wir haben geschaut und bezeugen, dass der Vater den Sohn gesandt hat als Retter der Welt. Wer bekennt, dass Jesus der Sohn Gottes ist, in dem bleibt Gott und er bleibt in Gott. Wir haben die Liebe, die Gott zu uns hat erkannt und gläubig angenommen. Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm.”[16] Für uns soll stets gelten: “Was ihr von Anfang an gehört habt, soll in euch bleiben; wenn in euch bleibt, was ihr von Anfang an gehört habt, dann werdet auch ihr im Sohn und im Vater bleiben. Und das ist die Verheissung, die er uns verheissen hat: das ewige Leben.”[17]

Nun ist es sogar Jesus selbst, der in einem sehr bedeutsamen Zusammenhang dieses “von Anfang an[18] ins Gespräch bringt. Als nämlich die Pharisäer zu ihm kamen, um ihm eine Falle zu stellen, fragten sie, ob man sich denn einfach so scheiden lassen könne.[19] Da weist sie Jesus auf das, was sie gewiss gehört, ja sogar gelesen hatten, hin: Von Anfang an war das nicht so.[20] Denn von Anfang an hat der Schöpfer den Menschen als Mann und Frau erschaffen und sie für eine exklusive Bindung in der Ehe bestimmt, die der Mensch nicht trennen darf.[21] Dieser radikale Rückbezug auf den ursprünglichen Schöpferwillen macht die Jünger sehr nachdenklich und lässt sie den Ernst der Lage erst so recht verstehen, wenn es um die Verwirklichung der ehelichen Hingabe und Treue geht. In der Ordnung der Erlösungsgnade rehabilitiert der Sohn Gottes für immer die anfängliche Schöpfungsordnung. Dafür müssen wir ganz Ohr sein – gerade in einer Zeit und Welt, in der diese göttliche Schöpfungsordnung vielfach durchbrochen und sogar grundsätzlich in Frage gestellt wird. Der Angriff auf die gottgewollte Ehe und Familie ist eine teuflische Attacke auf das, was von Anfang an im Heilswillen des Schöpfers und Erlösers grundgelegt ist und worüber der Mensch keine Verfügungsmacht hat.

Wer also ganz Ohr sein will, der muss so wie Maria, die Schwester der gewiss gutmeinenden geschäftigen Marta,[22] zu Füssen Jesu sitzen und sein Ohr für das öffnen, was Jesus sagt. Das ist die Haltung, die denen eigen sein muss, die ganz Ohr sein wollen. Aufeinander hören und sich im Gespräch miteinander austauschen, wird immer nur gelingen, wenn wir für den Sohn Gottes ganz Ohr sind, der allein der Weg und die Wahrheit und das Leben ist. Sein Geist lehrt uns die Unterscheidung der Geister; denn er ist ja gekommen, um die Werke des Teufels zu zerstören, mithin also die Werke der Lüge und der Täuschung, des Irrtums und der Verwirrung, des Weltgeistes und des Ungeistes. Jeder rein menschliche Dialog, jeder bloss menschliche Prozess, jedes nur menschliche Unternehmen ist von diesen Werken bedroht und betroffen seit dem Sündenfall im Paradies und seit der daraus resultierenden Erbsünde, an deren Folgen auch der Getaufte leidet und unter deren Last er sich mit Gottes Gnade zu bewähren hat.

Maria, die Mutter Jesu und unsere himmlische Mutter, die durch eine einzigartige Erwählung von der Erbschuld bewahrt blieb und somit von Anfang an sündelos ist, möge uns helfen, jedem Anfang zu wehren, der zur Sünde und zur Entfremdung von Gott und unseren Mitmenschen führen könnte. In diesem Sinne mahnt sie uns also immer wieder: Wehret den Anfängen! Wir tun es dann, wenn wir gerade auch auf sie von Anfang an hören und ihr demütiges Ja zum göttlichen Willen nachahmen. Im Vertrauen auf ihre Fürsprache und auf die Fürbitte ihres Bräutigams, des heiligen Josefs, des von Anfang an stillen, aber kraftvollen Beschützers der Heiligen Familie und des Patrons der Kirche, erbitte ich für uns alle Gottes reichsten Segen. Amen.                     

Schellenberg, am Fest der Darstellung des Herrn / Mariä Lichtmess
2. Februar 2022                           

                                                        ✠ Wolfgang Haas
                                                            Erzbischof von Vaduz

 

[1] Siehe Mt 20,28; Mk 10,45
[2] Vgl. Joh 10,14
[3] Hier wiedergegeben in der deutschsprachigen Textfassung von 1971 des Liber de Ordinatione (1968)
[4] Lateinisch “ab initio”; griechisch “ἀπ’ ἀρχης”
[5] Lateinisch “in principio”; griechisch “’eν ἀρχη”. Hier markiert bereits der Verfasser der Vulgata einen bedeutsamen Unterschied zu “ab initio”; er übersetzt ins Lateinische “in principio” und zeigt damit den inneren Grund oder den Ursprung bzw. die Ursächlichkeit des Anfangs an: die Präexistenz des Logos.
[6] 1 Joh 1,1-4
[7] Siehe Joh 14,6
[8] 1 Joh 2,5-6
[9] 1 Joh 2,7-11
[10] 1 Joh 2,13.14
[11] 1 Joh 2,16-17
[12] Offb 2,2-5a
[13] 1 Joh 3,11-12
[14] 1 Joh 3,8
[15] 1 Joh 3,8b-10
[16] 1 Joh 4,13b-16
[17] 1 Joh 2,24-25
[18] Lateinisch “ab initio”; griechisch “ἀπ’ ἀρχης”
[19] Vgl. Mt 19,3; Mk 10,2
[20] Mt 19,8
[21] Mt 19,4-6; Mk 10,6-9
[22] Vgl. Lk 10,38-42

Hirtenbrief zur Fastenzeit 2020

Zur Ehre der Altäre erhoben

Hirtenbrief zur Fastenzeit 2020 von Msgr. Wolfgang Haas, Erzbischof von Vaduz

 

Liebe Brüder und Schwestern im Herrn!

Wie inzwischen da und dort gewiss schon bekannt sein dürfte, ist es mir ein wichtiges Anliegen, dass wir in diesem Jahr den Patrozinien unserer Kirchen und Kapellen eine besondere Aufmerksamkeit schenken. Die Kirchen- und Kapellenpatrone in den Pfarreien unseres Erzbistums sind uns durch Gottes weise Vorsehung und durch die Vermittlung der Kirche zu Schutzheiligen gegeben, auf deren Fürsprache am Throne Gottes wir uns verlassen dürfen. Das trifft natürlich vorrangig auf die selige Jungfrau Maria, die Königin aller Heiligen, zu. Die vertiefte Kenntnis der Patrozinien ist nicht nur eine Verpflichtung, die sich aufgrund der Geschichte unserer Pfarreien ergibt, sondern noch viel mehr ein Gebot der Stunde, weil wir vor allem den Kindern und Jugendlichen – inzwischen aber auch vielen Erwachsenen – den Zugang zu den Schutzpatronen unserer Gotteshäuser schulden, damit sie um ihre Zugehörigkeit zur Wohnortspfarrei und zu unserem Bistum wissen und sich der Freundschaft mit der Kirche des Himmel erfreuen können.

Nie zuvor hat es in der Kirchengeschichte so viele Selig- und Heiligsprechungen gegeben wie in der Zeit der letzten Pontifikate, namentlich unter demjenigen des inzwischen selbst heiliggesprochenen Papstes Johannes’ Pauls II. Da darf ich sicherlich auch daran erinnern, was er bei seinem Pastoralbesuch am 8. September 1985 in unserem Land gesagt hat, als er zur Jugend sprach: “Gott ist gross im Leben einzelner Menschen, im Leben Marias selber und vieler heiligmässiger Männer und Frauen, die als leuchtende Vorbilder in die Geschichte eingegangen sind.”1

In seinem Grusswort hatte mein Vorgänger auf dem Churer Bischofsstuhl zu Beginn der Eucharistiefeier im Sportpark Eschen-Mauren damals den Papst unter anderem mit folgenden Worten willkommen geheissen: “Heiliger Vater, Sie sind gekommen, um uns Mut zuzusprechen und uns im Glauben zu stärken. Ihre Stimme reiht sich heute ein in die vielen Zeugnisse, welche die Heiligen dieser Gegend, vom Bodensee bis hinauf in die churrätischen Täler, hinterlassen haben. Vor unserem geistigen Auge steht der Churer Glaubensbote Luzius, der im Gebiet des oberen Rheintales den Glauben verkündete und den wir als Bistums- und Liechtensteiner Landespatron verehren; der fromme Einsiedler Eusebius vom Viktorsberg, dem die benachbarten Vorarlberger aus dem Bistum Feldkirch ein bleibendes Andenken bewahren; der leidgeprüfte Mönch Otmar, der in der Bodenseegegend geboren und am Bischofshof in Chur zum Priester herangebildet wurde, den die Gläubigen aus dem Bistum St. Gallen als Gründerabt des gleichnamigen Klosters in Ehren halten; der heilige Karl Borromäus und der heilige Fidelis von Sigmaringen, die nachweislich durch diese Lande gewandert sind. Ihre unvergessene Botschaft und ihr denkwürdiges Beispiel leuchten heute in hellem Licht auf, wenn Sie als Oberhirte der katholischen Kirche zu uns sprechen und mit uns beten.”2 Dass dem Heiligen Vater die Erwähnung seines Namenspatrons, des heiligen Karl Borromäus, sichtlich Freude bereitete, können wir gut verstehen. Es bringt uns zudem aktuell in Erinnerung, dass dieser grosse Heilige unserer Kirche heuer genau vor 450 Jahren – am 30. August 1570 – mit seinem Gefolge unser Gebiet durchquerte. Dies soll uns Grund und Anlass sein, zum gegebenen Zeitpunkt des heiligen Kardinals und Bischofs von Mailand besonders zu gedenken. In einem bekannten Wechselgebet heisst es: “Heilige Patrone unseres Bistums, alle Heiligen und Seligen, die in unserer Heimat gelebt und gewirkt haben: Bittet für den Bischof und unser Bistum.”3


1. Zur Ehre der Altäre erhoben sind die Heiligen unsere treuen Freunde.

Der Ausdruck “zur Ehre der Altäre erhoben” steht für die kirchliche Anerkennung von Menschen, die durch ihr heiliges Leben und Sterben vorbildhaft leuchten, und für die offizielle Zuerkennung ihrer liturgischen Verehrung. Dabei gilt selbstverständlich, was ich schon früher einmal so ausgedrückt habe: “Die gesamte Gemeinschaft der Heiligen wird immer grösser sein als die Zahl derer, die selig- und heiliggesprochen sind. Diese sind gleichsam nur eine Auswahl, die Gott durch besondere Zeichen und Wunder zeigen will und auf welche die Kirche besonders aufmerksam macht.”4 Im Katechismus der Katholischen Kirche lesen wir: “Wenn die Kirche gewisse Gläubige heiligspricht, das heisst feierlich erklärt, dass diese die Tugenden heldenhaft geübt und in Treue zur Gnade Gottes gelebt haben, anerkennt die Kirche die Macht des Geistes der Heiligkeit, der in ihr ist. Sie stärkt die Hoffnung der Gläubigen, indem sie ihnen die Heiligen als Vorbilder und Fürsprecher gibt.5 ‘In den schwierigsten Situationen der Geschichte der Kirche standen am Ursprung der Erneuerung immer Heilige’6, ‘Die geheime Quelle und das unfehlbare Mass der missionarischen Kraft der Kirche ist ihre Heiligkeit’7.”8 In meinem schon erwähnten früheren Hirtenbrief hatte ich die Anregung gemacht: “Jeder von uns sollte ein echtes Interesse daran haben, seinen Namenspatron oder seine Namenspatronin kennenzulernen. Mehr noch: es soll zwischen diesen und uns eine vertrauensvolle Freundschaft bestehen, so dass wir deren Hilfsbereitschaft und Fürbitte gerne in Anspruch nehmen. Zudem werden wir durch ihr vorbildliches Leben, Wirken und Sterben Anregung und Bestärkung darin erfahren, uns selber noch mehr auf Gott und seinen Heilswillen auszurichten, uns noch besser und selbstloser für das Wohl der Menschen und der ganzen Schöpfung einzusetzen, uns mit noch grösserer Hingabe unserer eigenen Berufung zu widmen.”9

Heute möchte ich diese Einladung ausweiten auf die Namen der Heiligen unserer Kirchen- und Kapellenpatrozinien und damit auf den Bereich unserer konkreten Wohnorte, die unter deren Schutz stehen. Wir können hier durchaus von den Namenspatroninnen und Namenspatronen unserer Gotteshäuser vor Ort sprechen. Sie rufen uns zur Freundschaft mit ihnen auf. Ihre bildlichen Darstellungen laden uns dazu ein, sich mit den Dargestellten vertraut zu machen. Treue Freunde wollen sich begegnen und besser kennenlernen. Die örtlich verehrten Heiligen bieten uns fortwährend ihre Freundschaft an und erweisen sich darin als treu. Bekanntlich zeigt sich die wahre Liebe in der Treue. “Die Liebe ist die Seele der Heiligkeit, zu der alle berufen sind: ‘Sie leitet und beseelt alle Mittel der Heiligung und führt sie zum Ziel’10.”11 Wenn wir aufgrund unserer eigenen Berufung zur Heiligkeit die Liebe zu unseren Kirchen- und Kapellenpatronen vermehrt oder überhaupt neu entdecken und entfalten, dann werden sich aus dieser Freundschaft mit ihnen auch ein tieferes Gemeinschaftsbewusstsein und ein intensiveres Gemeinschaftsleben unter den Gläubigen ergeben. Die treue Freundschaft der Heiligen gründet schliesslich in deren Freundschaft mit Gott, der uns durch alle Zeiten treu bleibt und unser Echo der treuen Freundschaft erwartet, wie es die Heiligen bewiesen haben. So tritt die göttliche Weisheit von Geschlecht zu Geschlecht “in heilige Seelen ein und schafft Freunde Gottes und Propheten”12.


2. Zur Ehre der Altäre erhoben sind die Heiligen unsere wahren Vorbilder.

Noch einmal erlaube ich mir, etwas in Erinnerung zu rufen, was ich schon im Fastenhirtenbrief 2011 betont habe: “Dem überzeugten Christen wird es nie und nimmer egal sein, wer Vorbildlichkeit für sich beanspruchen kann und wem Vorbildcharakter zukommt. Unsere Kirche hat darauf eine klare Antwort: es sind die Seligen und Heiligen des Himmels. Es sind diejenigen, deren Leben in der Nachfolge Jesu gelungen ist und die dafür die Krone des ewigen Lebens empfangen haben. Es sind jene, die - wie es eine schöne Ausdrucksweise besagt - zur Ehre der Altäre erhoben wurden. Sie sind die leuchtenden Sterne am Himmel der Heiligkeit. Sie bilden die heilige Schar der Vorbilder. Sie gehören zu jener Wolke von Zeugen, die ganz für Gott und in Vereinigung mit ihm für die Menschen gelebt und gelitten haben, ja oft ihr Leben im Martyrium für den Herrn, den sie liebten, hingaben.”13 Es gibt offenbar ein gewisses menschliches Bedürfnis, sich an Idealen und an Idolen auszurichten, wobei die Inhalte solcher Ideale und die Art solcher Idole sehr verschieden und sogar widersprüchlich sein können. Da kommen eben menschliche Vorlieben und Geschmacksrichtungen ins Spiel; da kommen Modeströmungen und Medientrends zum Zug. Der gläubige Christ ist gehalten, sich um eine klare Unterscheidung der Geister zu bemühen – und dies unter dem Anspruch der Wahrheit, der sich aus Jesu Person und Botschaft ergibt. Der gläubige Katholik schaut dabei auch auf die Heiligen, die in der Nachfolge des Herrn die wahren Vorbilder im Glauben, in der Hoffnung und in der Liebe geworden sind.

Wenn wir uns in diesem Jahr vermehrt auf die Patrone unserer Kirchen und Kapellen konzentrieren, dann besonders auch deswegen, um sie uns zum Vorbild zu nehmen, wie wir selber dem Willen Gottes besser entsprechen und ein Leben nach Gottes Wohlgefallen führen können. Als echte Vorbilder, die unabhängig von Modeströmungen und Medientrends sind, spornen diese Heiligen uns dazu an, es ihnen gleichzutun. Sie ermutigen uns zu einem glaubwürdigen Leben in der Nachfolge Jesu. Jeder Glockenschlag, der von unseren Kirchtürmen tönt, lockt uns gleichsam in die Gemeinschaft mit unseren örtlichen Schutzheiligen, damit wir in ihr Gotteslob miteinstimmen und uns durch ihr Glaubenszeugnis angezogen fühlen.

 

3. Zur Ehre der Altäre erhoben sind die Heiligen unsere wirksamen Fürbitter.

Ein schönes Kirchenlied lädt uns dazu ein, auf die Fürbittmacht der Heiligen zu vertrauen: “Ihr Freunde Gottes allzugleich, / verherrlicht hoch im Himmelreich, / erfleht am Throne allezeit /
uns Gnade und Barmherzigkeit! / Helft uns in diesem Erdental, / dass wir durch Gottes Gnad und Wahl / zum Himmel kommen allzumal!”14 Damit ist auch schon das Ziel der erbetenen Fürsprache unserer Patrone genannt. Sie sollen und wollen uns helfen, in den Himmel zu kommen. Denken wir doch öfters daran, wenn wir vor unseren Kirchen und Kapellen, die nach unseren Patronen benannt sind, stehen und auf die Glockentürme schauen, die nach oben weisen. Diese sind gewissermassen ein Fingerzeig Gottes, der die entscheidende Richtung unseres Lebens angibt: senkrecht, aufwärts, himmelwärts. Unsere heiligen Patrone lehren uns den aufrechten Gang aus Glaube, Hoffnung und Liebe. Wenn unsere zwischenmenschlichen Beziehungen gelingen sollen, dann ist dies nur möglich, wenn wir tugendhaft aufrecht und aufrichtig sind. Wenn es in der horizontalen Ebene stimmen soll, setzt dies voraus, dass im Koordinatensystem unseres Lebens die Vertikale nicht ausgeblendet ist, sondern vielmehr sogar vorrangig beachtet wird. Im Doppelgebot der Liebe ist und bleibt bei aller Gleichbedeutung die Gottesliebe der Nächstenliebe vorgeordnet; denn ohne die Gottesliebe würde die Nächstenliebe sehr bald verflachen, ihre Kraft verlieren und in die Gefahrenzone des Egoismus gelangen.

“Gutmenschentum” mag sympathisch wirken und auch Positives hervorbringen; es neigt aber schnell zur Selbstdarstellung und Selbstgefälligkeit, so dass es vor allem auf Öffentlichkeitswirkung ankommt; da gilt dann das Motto: Tu etwas Gutes und lass es die ganze Welt wissen. Dabei fehlt jedoch die entscheidende Zielrichtung, die in einem paulinischen Appell aufklingt: “Tut alles zur Verherrlichung Gottes!”15 Wir haben aus dem Munde Jesu im Evangelium des Aschermittwochs die Mahnung vernommen: “Wenn du Almosen gibst, soll deine linke Hand nicht wissen, was deine rechte tut, damit dein Almosen im Verborgenen bleibt; und dein Vater, der auch das Verborgene sieht, wird es dir vergelten.”16 Wenn es uns dennoch erlaubt ist, unser Licht vor den Menschen leuchten zu lassen, damit sie unsere guten Taten sehen, dann nur deswegen, damit sie unseren Vater im Himmel preisen.17 Ja, es gilt eben der Grundsatz: Alles zur grösseren Ehre Gottes!

Unsere Kirchen- und Kapellenpatrone sind in ihrem Dienst am Mitmenschen von dieser Art. Sie posaunen ihren Liebesdienst nicht vor sich her, sondern vollziehen ihn in aller Demut und Bescheidenheit; sie verrichten ihn vor allem durch ihre wirksame Fürbitte am Throne Gottes. Damit machen sie deutlich, dass der Geber aller Gaben Gott selbst ist, auch wenn und gerade wenn er Menschen der Nächstenliebe in seinen Dienst nimmt. Dabei ist oft nicht in erster Linie die materielle Leistung von Bedeutung, sondern vor allem die liebende Zuwendung und Hingabe an die Mitmenschen in ihren vielfältigen Nöten, seien diese nun körperlicher, seelischer, geistiger oder geistlicher Art. Der Sohn Gottes, der zu unserem Heil Menschennatur angenommen hat und in seiner Kirche fortlebt, war und ist kein Philanthrop humanistischer Prägung. Er ist vielmehr unser Erlöser und Heiland, der uns die Tür zum ewigen Leben geöffnet hat und sie durch den Dienst der Kirche offen hält: durch deren Dienst am Wort Gottes, durch deren Dienst an der Fülle der von Gott geoffenbarten Heilswahrheit, durch deren Dienst im Gebet und in der Feier beziehungsweise in der Spendung der heiligen Sakramente und Sakramentalien, durch deren Dienst in vielfältigen Werken der Liebe. Bei alledem wirkt die Kirche des Himmels kraftvoll mit – also die Gemeinschaft der Engel, der Seligen und Heiligen, der in Gott Vollendeten. Sie alle, zur Ehre der Altäre erhoben, allen voran die selige Jungfrau und Gottesmutter Maria, sind wirksame Fürbitter für uns, die wir noch auf dem irdischen Pilgerweg voranschreiten – das Ziel unserer Berufung vor Augen: die ewige Vollendung in Gottes Herrlichkeit.

Bald wird eine Kleinschrift über unsere Kirchen- und Kapellenpatrone beziehungsweise über die Patrozinien der Pfarrkirchen und Kapellen im Erzbistum Vaduz erscheinen. Sie korrespondiert mit den bereits in Umlauf befindlichen Patroziniumsbildchen und möchte eine Hilfe sein, die Schutzheiligen unserer Gotteshäuser vermehrt bekannt und beliebt zu machen. Für alle Bemühungen zur Förderung des damit verbundenen Anliegens danke ich von Herzen.

Die Fastenzeit als Vorbereitung auf das heilige Osterfest eröffnet uns im geistlichen Blick auf unsere heiligen Patrone gewiss viele Möglichkeiten, durch die Abkehr von Sünde und Schuld sowie durch die Hinwendung zu Gott neu die Freude im Glauben zu erleben und dadurch dem gerecht zu werden, was der Völkerapostel in die schlichten und doch so anspruchsvollen Worte kleidet: “Das ist es, was Gott will: eure Heiligung”18. Dazu erbitte ich uns allen im Vertrauen auf die Fürsprache unserer heiligen Patrone den Segen Gottes.

Schellenberg, am Fest der Darstellung des Herrn / Mariä Lichtmess,
2. Februar 2020

✠ Wolfgang Haas
Erzbischof von Vaduz

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Ansprache von Papst Johannes Paul II. an die Jugend vor der Dux-Kapelle in Schaan am 8. September 1985

Grusswort von Diözesanbischof Dr. Johannes Vonderach an Papst Johannes Paul II. zu Beginn der Eucharistiefeier im Sportpark Eschen-Mauren am 8. September 1985

3 Kirchengesangbuch (KGB) Nr. 681

4  Hirtenbrief zur Fastenzeit 2011 “Eine Wolke von Zeugen”

Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, 40; 48-51

Papst Johannes Paul II., Apostolisches Mahnschreiben Christifideles laici vom 30. Dezember 1988, 16,3

7 Papst Johannes Paul II., Apostolisches Mahnschreiben Christifideles laici vom 30. Dezember 1988, Nr. 17,3

8 KKK Nr. 828

KKK Nr. 828

10 Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, 42

11 KKK Nr. 826

12 Weish 7,27

13 Hirtenbrief zur Fastenzeit 2011 “Eine Wolke von Zeugen”

14 Kirchengesangbuch (KGB) Nr. 891; Katholisches Gesangbuch (KG) Nr. 787; Gotteslob neu (GL) Nr. 542

15 1 Kor 10,31

16 Mt 6,3-4

17 Vgl. Mt 5,16

18 1 Thess 4,3

Hirtenbrief zur Fastenzeit 2021

Beherzigt, was der Heilige Geist sagt (Hebr 3,7)

Hirtenbrief zur Fastenzeit 2021 von Msgr. Wolfgang Haas, Erzbischof von Vaduz

 

Liebe Brüder und Schwestern im Herrn!

Hand aufs Herz: Wann hast du das letzte Mal danach gefragt, was der Heilige Geist dir sagt? Oder noch grundsätzlicher: Hast du je einmal wirklich danach verlangt zu vernehmen, was der Heilige Geist dir sagen wollte? Wann und wo und wie und bei welcher Gelegenheit hast du zum Heiligen Geist gebetet und um seinen Beistand gebittet? Diese Fragen können uns echt in Verlegenheit bringen, obwohl wir bei so manchen Gelegenheiten das Kreuzzeichen machen und dazu sprechen: Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen. – und obwohl wir nicht eben selten im Lobpreis des Dreifaltigen Gottes bekennen: Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist. Dennoch ist die dritte Göttliche Person für viele Getaufte und Gefirmte ein Fremdling und wird es umso mehr, je mehr ein Mensch nicht auf Gottes Geist vertraut, sondern auf den eigenen Geist baut, der sich nur allzu oft und gern am Weltgeist und am Zeitgeist, ja sogar am Ungeist orientiert. Da muss doch das stets aktuelle Warnsignal aufblinken, das uns der Verfasser des Hebräerbriefes aufleuchten lässt: “Beherzigt, was der Heilige Geist sagt.”1 Der heilige Schriftsteller ist dabei im Rückbezug auf die Wüstenwanderung des Volkes Israel um eine Antwort nicht verlegen: “Heute, wenn ihr seine Stimme hört, verhärtet nicht eure Herzen wie beim Aufruhr am Tag der Versuchung in der Wüste! Dort haben eure Väter mich versucht, sie haben mich auf die Probe gestellt und hatten doch meine Taten gesehen, vierzig Jahre lang. Darum war mir diese Generation zuwider und ich sagte: Immer geht ihr Herz in die Irre. Sie erkannten meine Wege nicht. Darum habe ich in meinem Zorn geschworen: Sie sollen nicht in das Land meiner Ruhe kommen.”2 Dann fährt der Autor des Briefes an die Hebräer fort: “Gebt Acht, Brüder und Schwestern, dass keiner von euch ein böses, ungläubiges Herz hat, dass keiner vom lebendigen Gott abfällt, sondern ermahnt einander jeden Tag, solange es noch heisst: Heute, damit niemand von euch durch den Betrug der Sünde verhärtet wird; denn an Christus haben wir nur Anteil, wenn wir bis zum Ende an der Zuversicht festhalten, die wir am Anfang hatten.”3 Der Appell, der auch an uns ergeht, löst sogleich die Frage aus, wie wir denn erkennen können, was der Heilige Geist uns sagt, die wir nur dann an Christus Anteil haben, “wenn wir bis zum Ende an der Zuversicht festhalten, die wir am Anfang hatten”4. Diese im Herrn gründende Hoffnung und dieser ursprüngliche Glaube garantieren uns den Inhalt dessen, was der Heilige Geist uns sagt.

 

  1. Beherzigt, was der Heilige Geist sagt – durch den lehramtlichen Mund der Kirche

 Diejenigen, denen durch den Auftrag Jesu Christi und durch die Sendung der Kirche die kirchliche Lehrverkündigung anvertraut ist, dürfen sich der Führung durch den Heiligen Geist erfreuen, wenn sie ihre Aufgabe in der Treue zur Überlieferung des Glaubens und gemäss der göttlichen Ordnung ausüben. “Der Herr hat seiner Kirche die Aufgabe anvertraut, das Glaubensgut zu hüten, und sie erfüllt diese Aufgabe zu allen Zeiten.”5 Das Licht des wahren Glaubens befreit den Menschen von der Unwissenheit und der Sklaverei der Sünde und führt ihn so zur einzigen dieses Namens würdigen Freiheit, “zu derjenigen des Lebens in Christus unter der Führung des Heiligen Geistes, hienieden und im Himmelreich, in der Fülle der Seligkeit der Anschauung Gottes von Angesicht zu Angesicht.”6 Im Katechismus der Katholischen Kirche lesen wir bezüglich des vom Heiligen Geist geleiteten authentischen Lehramtes: “Die Sendung des Lehramtes ist mit dem endgültigen Charakter des Bundes verknüpft, den Gott in Christus mit seinem Volk geschlossen hat. Das Lehramt muss das Volk vor Verirrungen und Glaubensschwäche schützen und ihm die objektive Möglichkeit gewährleisten, den ursprünglichen Glauben irrtumsfrei zu bekennen. Der pastorale Auftrag des Lehramtes ist es, zu wachen, dass das Gottesvolk in der befreienden Wahrheit bleibt. Zur Erfüllung dieses Dienstes hat Christus den Hirten das Charisma der Unfehlbarkeit in Fragen des Glaubens und der Sitten verliehen.”7 Dabei gilt freilich: “ Diese Unfehlbarkeit reicht so weit wie die Hinterlassenschaft der göttlichen Offenbarung.”8

Um dies besser zu verstehen, kann ein Blick auf jene Begebenheit helfen, bei der Jesus mit Nikodemus ein tiefgründiges Gespräch führt und eine wunderbare Entwicklung seiner Lehrverkündigung aufzeigt, die in der Aussage kulminiert: “Wer aber die Wahrheit tut, kommt zum Licht, damit offenbar wird, dass seine Taten in Gott vollbracht sind.”9 Jesus nimmt uns gewissermassen in dieses Gespräch mit hinein, und macht diese Begegnung mit ihm zur sogenannten Nikodmusstunde; denn er führt uns immer tiefer in das Geheimnis seiner eigenen Person ein. Er spricht dabei gerade auch vom Geist, der dem Fleisch entgegensteht, und benutzt ein bedeutungsvolles Bild, wenn er sagt: “Der Wind weht, wo er will; du hörst sein Brausen, weisst aber nicht, woher er kommt und wohin er geht. So ist es mit jedem, der aus dem Geist geboren ist.”10

Das Bildwort vom Wind ist durchaus auch auf die Geisthauchung übertragbar. Dabei ist sehr wohl zu beachten, dass vom “wo” und vom “woher” und vom “wohin” die Rede ist und nicht von einem “wie”. Es geht also um Windrichtungen und nicht um einen Wirbelwind. Es geht um eine Herkunft, um eine Verortung und um ein Ziel und nicht um Richtungslosigkeit oder ein chaotisches Durch­einander. Wichtig dabei ist die Tatsache, dass wir das Brausen, sprich: die Stimme hören. Der Glaube kommt ja vom Hören. Somit verbietet sich jede ideologische Vereinnahmung des Wirkens von Gottes heiligem Geist für weltgeistige, zeitgeistige oder gar ungeistige Vorstellungen, Absichten, Machenschaften, Wünsche und Tagträume.

Die Hirten der Kirche haben die heilige Pflicht, die Geister zu prüfen und den “Geist der Wahrheit”11 zur Geltung zu bringen. Echte Charismen sind Gaben des Heiligen Geistes; sie müssen wirklich von ihm kommen, einer Überprüfung durch das apostolische Amt standhalten und sodann in Liebe ausgeübt werden, die das eigentliche Mass der Geistesgaben ist.12 Es wäre geradezu verhängnisvoll, würden sich sogenannte Charismatiker zu Gegenspielern des kirchlichen Lehramtes aufschwingen. Der lehramtliche Mund der Kirche spricht – wenn er sich ganz der Stimme des Heiligen Geistes überlässt – stets klar und eindeutig. Wenn er dies nicht tut, also zwei- oder mehrdeutig redet und sich somit verunklärend äussert, dann hat er sich von anderen Stimmen leiten lassen, die nicht des Heiligen Geistes sind. Die christliche Heilswahrheit, ihre authentische Auslegung und ihre verantwortungsbewusste Vermittlung kennen, weil vom Heiligen Geist linear und kontinuierlich geführt, kein “volatiles” Verhalten und unterliegen keinen wie auch immer gearteten Mutationen.

 

  1. Beherzigt, was der Heilige Geist sagt – durch die belebende Botschaft seiner Gaben und Früchte

In meiner Studienzeit an der Universität wurden die Vorlesungen in Philosophie und Theologie fast regelmässig eröffnet mit einem Gebet zum Heiligen Geist. Professoren und Studenten waren sich noch bewusst, dass die Gotteswissenschaft und ihre auf den rechten Vernunftgebrauch bedachte Dienerin jener Führung und Begleitung bedarf, die nur durch jenen Beistand gewährleistet ist, der gemäss der Verheissung Jesu Christi als Geist der Wahrheit kommt, um in die ganze Wahrheit zu führen. Dass es seit geraumer Zeit so etwas wie einen Aufstand der Lehrstühle gegen das kirchliche Lehramt gibt, braucht eigentlich nicht zu verwundern. Wenn nämlich Theologie in Verbindung mit Philosophie keine “kniende Wissenschaft” mehr ist, also vom Gebet ausgeht und ins Gebet einmündet, dann verdrängt allzu leicht menschlicher Geist den göttlichen Geist. Nun müssten wir als Getaufte und Gefirmte es doch wissen: wir haben den Geist empfangen, durch den die Liebe Gottes in unsere Herzen ausgegossen ist.13 Er hat uns beschenkt mit seinen Gaben und mit seinen Früchten. Erinnern wir uns noch daran, was wir im Firmunterricht gelernt und uns hoffentlich verinnerlicht haben? Da sind die Gaben des Heiligen Geistes, die uns zugleich zu Aufgaben werden müssen: der Geist der Weisheit und der Einsicht, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Frömmigkeit und der Geist der Gottesfurcht.14 Dann sind da noch die Früchte des Heiligen Geistes, die unser Wachstum im Glauben, in der Hoffnung und in der Liebe nähren wollen: “Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut und Enthaltsam­keit”.15

Der Heilige Geist eröffnet uns stets aufs Neue den “Schatz, der siebenfältig ziert.”16 Wir sind also durch ihn kostbar und reichlich beschenkt. Es ist eine belebende Botschaft, die wir da vernehmen: Du bist als getaufter und gefirmter Mensch zu wahrer Erkenntnis fähig, vor allem zur Erkenntnis und Anerkenntnis des Dreifaltigen Gottes. Du empfängst den Geist der Weisheit und der Einsicht, um in gläubiger Intelligenz die Schöpfung auf ihren Schöpfer hin zu durchdringen und in allem Geschaffenen die Spuren Gottes zu entdecken. Der Geist des Rates und der Stärke lässt dich über dich selbst und deine eigenen Grenzen hinauswachsen; denn du bist demütig und zugleich mutig genug, um einen guten Rat anzunehmen und gute Ratschläge zu geben, da dir die Gabe der Stärke Glaubensmut und Glaubensfreude vermittelt. Der Geist der Frömmigkeit und der Gottesfurcht lehrt dich, alles von Gott her und auf Gott hin zu sehen und so zu leben, dass es ihm gefällt.

Ebenso belebend ist die Botschaft von den geistlichen Früchten, bei denen wir das Wachstum und die Vertiefung der Taufgnade erleben und die uns als Zeugen Jesu Christi erst so recht glaubwürdig machen. Ein vom Heiligen Geist geleitetes Leben verfällt nicht den Werken des Fleisches: “Unzucht, Unreinheit, Ausschweifung, Götzendienst, Zauberei, Feindschaften, Streit, Eifersucht, Jähzorn, Eigennutz, Spaltungen, Parteiungen, Neid, massloses Trinken und Essen und Ähnliches mehr.”17 Die Frucht des Heiligen Geistes hingegen sind, wie wir schon vernommen haben: “Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut und Enthaltsamkeit”.18 In der katechetischen Unterweisung sprechen wir sodann von den zwölf Früchten des Heiligen Geistes: Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Langmut, Sanftmut, Treue, Bescheidenheit, Selbstbeherrschung, Keuschheit. Nun wissen wir es also wieder, was es heisst, das zu beherzigen, was der Heilige Geist sagt durch die belebende Botschaft seiner Gaben und Früchte.

 

  1. Beherzigt, was der Heilige Geist sagt – durch die klare Stimme des gebildeten Gewissens

Man beruft sich gerne und schnell auf sein eigenes Gewissen, wenn es um die persönliche Rechtfertigung von Entscheidungen und Verhaltensweisen geht. Fragt man dann danach, was die betreffende Person unter “Gewissen” versteht, dann sind die Antworten – wenn sie überhaupt gegeben werden – oft vage und verschwommen. Nur schon die Frage, ob man sich bei der Berufung auf das eigene Gewissen denn auch vergewissert hat, dass dieses richtig urteilt, bringt manche in Verlegenheit. Wie gelange ich denn zu einem gebildeten Gewissen? Woher will ich wissen, ob mein Gewissen verantwortlich reagiert? Wann kann ich davon ausgehen, dass sich mein Gewissen mit klarer Stimme äussert?

Die Kirche lehrt uns, dass das Gewissen im Innersten des Menschen wirkt. “ Es gebietet zum gegebenen Zeitpunkt, das Gute zu tun und das Böse zu unterlassen. Es urteilt auch über die konkreten Entscheidungen, indem es den guten zustimmt, die schlechten missbilligt. Es bezeugt die Wahrheit im Hinblick auf das höchste Gut, auf Gott, von dem der Mensch angezogen wird und dessen Gebote er empfängt. Wenn er auf das Gewissen hört, kann der kluge Mensch die Stimme Gottes vernehmen, die darin spricht.”19 Es liegt gleichsam auf der Hand, dass der Mensch bei aller persönlichen Berechtigung, in Freiheit gemäss seinem Gewissen zu handeln, die verantwortungsvolle Aufgabe hat, sein Gewissen zu formen und sein sittliches Urteil durch den Heiligen Geist erleuchten zu lassen. Es ist also Gewissensbildung angesagt, gerade weil Gott im Herzen des Menschen ein Gesetz eingeschrieben hat, dem zu gehorchen eben seine Würde ausmacht. Wenn das Gewissen “der verborgenste Kern und das Heiligtum des Menschen, in dem er allein ist mit Gott, dessen Stimme in seinem Innersten widerhallt”20 darstellt, dann bedarf es einer besonderen Hilfe, um diesen Kern und dieses Heiligtum zu entbergen, zumal der Mensch an der Erbsünde und ihren Folgen leidet. Es braucht die Gnade Gottes, um die Verunklärungen des Geistes zu überwinden; denn wir sind und bleiben auch als Getaufte und Gefirmte anfällig für Irrtum, Verdunkelung des Verstandes, Schwä­chung des Willens und schlechte Neigungen. Nur eine solide Gewissenserziehung, die sich am Wort Gottes und an der gesunden Lehre der Kirche orientiert, gewährleistet die wahre Freiheit der Kinder Gottes und führt zum Frieden des Herzens, also zum ruhigen und reinen Gewissen. Der heilige Augustinus sagt: “Halte Einkehr in dein Gewissen, dieses befrage! ... Haltet also Einkehr in euer Inneres, Brüder! Und in allem, was ihr tut, schaut, daß Gott euer Zeuge sei!”21 Im heutigen Lebenskontext, in dem der Mensch steht, muss besonders darauf geachtet werden, dass bezüglich des Gewissensurteils keine falschen Vorstellungen aufkommen. Das Gewissen ist nicht normstiftend oder normbegründend; es ist normbedingt und normorientiert. Was heisst das? Unserem Gewissen sind die Normen vorgegeben, sei es durch das natürliche Sittengesetz oder durch die göttliche Offenbarung und ihre authentische Auslegung. Das Gewissen hat sich also an vorgegebenen Normen zu orientieren und muss sich an diesen messen lassen. Somit zeigt sich, dass die Erziehung des Gewissens eine lebenslange Aufgabe ist und bleibt. “Schon in den ersten Jahren leitet sie das Kind dazu an, das durch das Gewissen wahrgenommene innere Gesetz zu erkennen und zu erfüllen. Eine umsichtige Erziehung regt zu tugendhaftem Verhalten an. Sie bewahrt oder befreit vor Furcht, Selbstsucht und Stolz, falschen Schuldgefühlen und Regungen der Selbstgefälligkeit, die durch menschliche Schwäche und Fehlerhaftigkeit entstehen können. Gewissenserziehung gewährleistet die Freiheit und führt zum Frieden des Herzens.”22 Um die Tauglichkeiten im persönlichen und gemeinschaftlichen Alltagsleben und im Glaubensleben müssen wir uns mit dem Beistand des Heiligen Geistes bemühen, dann wird sich die klare Stimme des gebildeten Gewissens bemerkbar machen. Wenn wir in unseren Herzen Christus, den Herrn, heilig halten, dann können wir den Auftrag erfüllen, zu dem uns der Apostel Petrus aufruft: “Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die euch erfüllt; antwortet aber bescheiden und ehrfürchtig, denn ihr habt ein reines Gewissen.”23

Ein geradezu selbstredendes Beispiel eines Menschen, der beherzigt hat, was der Heilige Geist sagt, ist der heilige Josef, der Patron der ganzen Kirche. Ihm wollen wir unser besonderes Augenmerk schenken; denn er lehrt uns, in einem Leben der Innerlichkeit den göttlichen Fügungen zu vertrauen und ihnen bereitwillig zu entsprechen. Ihn und die ihm angetraute Jungfrau und Gottesmutter Maria bitten wir um Hilfe, damit es uns gelingen möge, immer und überall das zu beherzigen, was der Geist uns sagt: durch den lehramtlichen Mund der Kirche, durch die belebende Botschaft seiner Gaben und Früchte, durch die klare Stimme des gebildeten Gewissens. Dazu segne uns der Dreieinige Gott: der Vater und der Sohn und der Heilige Geist.  Amen.

 

Schellenberg, am Gedenktag des hl. Hilarius, 13. Januar 2021

✠ Wolfgang Haas
Erzbischof von Vaduz

 

1 Hebr 3,7
2 Hebr 3,7b-11; vgl. Ps 95, 7b-11
3 Hebr 3,12-14
4 Hebr 3,14
5 Erster Satz der Apostolischen Konstitution “Fidei depositum” von Papst Johannes Paul II. zur Veröffentlichung des Katechismus der Katholischen Kirche (KKK) vom 11. Oktober 1992
6 Ebenda, Schlusssatz
7 KKK Nr. 890
8 KKK Nr. 891
9 Joh 3,21
10 Joh 3,8; im griechischen Urtext steht für “Wind” das Wort “pneuma” und in der lateinischen Übersetzung “spiritus”, so dass die Übertragung dieses Bildwortes auf den Geist Gottes durchaus naheliegt.
11 Joh 16,13
12 Vgl. 1 Kor 13
13 Vgl. Röm 5,5
14 Vgl. Jes 11,2-3
15 Gal 5,22-23
16 Vgl. 3. Strophe des Liedes “Komm, Schöpfer Geist...” (KGB Nr. 285, KG Nr. 228, GL Nr. 351, SR Nr. 172)
17 Gal 5,19-21
18 Gal 5,22-23
19 KKK 1777<br/ 20 Zweites Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution “Gaudium et spes”, Nr. 16
21 Augustinus, ep. Jo. 8,9 (zitiert nach KKK 1779)
22 KKK 1784
23
1 Petr 3,15-16

Hirtenbrief zur Fastenzeit 2019

Schatz in zerbrechlichen Gefässen

Hirtenbrief zur Fastenzeit 2019 von Msgr. Wolfgang Haas, Erzbischof von Vaduz

(Der Hirtenbrief ist am 1. Fastensonntag, 10. März 2019, in allen Gottesdiensten vorzulesen. Er kann auch auf zwei Fastensonntage verteilt vorgetragen werden. Zur Veröffentlichung in der Presse ist er vom 11. März 2019 an freigegeben.)

 

 

Liebe Brüder und Schwestern im Herrn!

Wohl den meisten von uns ist das Wort Jesu geläufig: “Wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz.”1 Einem Mädchen – über alle Ohren verliebt, wie man gelegentlich zu sagen pflegt – hat diese Redewendung besonders gut gefallen, dachte es dabei doch an sein “Schätzchen”. Dass Jesus hier nicht das “Schätzchen” der Verliebten meint, sondern dass es ihm bei seiner Rede um die falsche und die rechte Sorge im menschlichen Leben geht, war zunächst nicht in Betracht. Jesus will uns lehren, dass wir nicht vergängliche Schätze hier auf Erden sammeln sollen, sondern dass wir für uns bleibende Schätze im Himmel anlegen. Wenn also das “Schätzchen” ein wirklicher Schatz sein will, dann muss es für den Himmel tauglich sein und nicht nur himmlische  Gefühle auslösen. Solche tragen wir bekanntlich in zerbrechlichen Gefässen; sie können nur allzu schnell dahinschwinden.

Gewiss verbinden wir die liebende Empfindung eines Menschen mit dem Herzen, einem lebenswichtigen Organ, das die Durchblutung des Körpers ermöglicht und sichert. Schon das physische Herz schlägt also nicht nur für sich selbst, sondern für den ganzen Leib, um ihn mit Blut zu versorgen. So schlägt das liebende Herz gerade nicht nur für sich selbst, sondern für den geliebten Menschen und wendet sich ihm als einem wertvollen Schatz zu, den es zu umsorgen gilt. Der höchste und grösste Schatz aber ist Gott selbst, der sich uns in seinem mensch­gewordenen Sohn als die Fülle des Lebens, als die Fülle der Wahr­heit, als die Fülle der Liebe geoffenbart hat.

So kann Paulus in seinem zweiten Brief an die Korinther schrei­ben: “Gott, der sprach: Aus Finsternis soll Licht aufleuchten!, er ist in unseren Herzen aufgeleuchtet, damit wir erleuchtet werden zur Erkenntnis des Glanzes auf dem Antlitz Christi. Diesen Schatz tragen wir in zerbrechlichen Gefässen; so wird deutlich, dass das Übermass der Kraft von Gott und nicht von uns kommt.”2 Was der Völkerapostel hier festhält, bezieht er zunächst auf sich selbst und auf seinen Dienst an der Gemeinde. Er weiss sich dabei in die Leidensgemeinschaft mit Christus hineingenommen. Paulus kennt einerseits die Grösse und Schön­heit des Aposteldienstes, zugleich aber auch die Not, die sich oft damit verbindet. Sein Verhältnis zur Gemeinde von Korinth hatte sich verschlechtert. Gegnerische Kreise versuchten, die junge Christengemeinschaft gegen ihn aufzuhetzen. So wird es notwendig, den Korinthern die richtige Beurteilung seiner apostolischen Mission zu ermöglichen. Die teilweise schon erlangte Versöhnung soll zu einer vollständigen geführt werden. Dies will der Völkerapostel durch eine demütige christusförmige Darstellung seines grossen Auftrages erreichen. So bekennt er freimütig: “Von allen Seiten werden wir in die Enge getrieben und finden doch noch Raum; wir wissen weder aus noch ein und verzweifeln dennoch nicht; wir werden gehetzt und sind doch nicht verlassen; wir werden niedergestreckt und doch nicht vernichtet. Wohin wir auch kommen, immer tragen wir das Todesleiden Jesu an unserem Leib, damit auch das Leben Jesu an unserem Leib sichtbar wird.”3

Was den apostolischen und missionarischen Dienst damals kennzeichnete, widerfährt den treuen Dienern und wahren Verkündern der Kirche in allen Zeiten – so auch heute. In einer säkularisierten Umwelt, wie wir sie gerade auch in unseren Breiten erleben, tun wir uns oft schwer, wenn wir offen die Wahrheit lehren und wenn wir in dem Dienst, der uns durch Gottes erbarmende Liebe übertragen wurde, unseren Eifer nicht erlahmen lassen, uns vielmehr von aller schimpflichen Arglist losgesagt haben und das Wort Gottes nicht verfälschen.4

Das Neuheidentum, das sich auch bei uns immer mehr ausbreitet und so manche Formen von Religionsersatz bis hin zu okkulten Praktiken hat erstehen lassen, macht eine Neuevangelisierung erforderlich, die der unverfälschten und ungeschmälerten göttlichen Wahrheit verpflichtet ist, wie sie uns in der Person Jesu Christi und in seiner Lehre begegnet. Dieser wahre Schatz leuchtet uns nur im Antlitz Christi auf; wir können ihn nur auf seinem Antlitz erkennen. Freilich tragen wir diesen Schatz in zerbrechlichen Gefässen, weil jeder von uns seine Grenzen und seine Schwächen hat. Wir kennen uns – wenn wir ehrlich sind – gut genug, um zu erkennen, wie schwach, wie zerbrechlich, wie gefährdet wir alle sind, wenn es um Glaube, Hoffnung und Liebe geht, wodurch wir zur Erkenntnis des göttlichen Glanzes auf dem Antlitz Christi befähigt sind.

Paulus hat gewiss bei seiner Rede von den “zerbrechlichen Gefässen” an die Töpferware gedacht.5 Wenn man als Sohn eines Töpfers mit diesem Bild konfrontiert wird, dann denkt man natürlich sofort an das keramische Handwerk und seine Produkte. Von Kind auf hörte man das poetische Wort: Gott der Schöpfer war, wie bekannt, der erste Töpfer; und man erinnert sich dabei an die Anspielung auf die Erschaffung des Menschen aus Lehm. Wie plastisch ist doch die biblische Schilderung, die wir alle kennen: “Da formte Gott, der Herr, den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen.”6

Schon von daher verwundert es natürlich nicht, dass Gott im Verständnis der Heiligen Schrift jene Souveränität über alle Geschöpfe besitzt, wie sie der Töpfer über die von ihm angefertigten Objekte hat.7

Am Aschermittwoch, an dem uns die Asche aufs Haupt gelegt oder ein Aschenkreuz auf die Stirn gezeichnet wird, macht uns diese Zeichenhandlung sinnenfällig die Vergänglichkeit unseres irdischen Lebens bewusst, und es erreicht uns neu der Ruf zur Bekehrung und zu einem vertieften Glauben an das Evangelium: “Bedenke, Mensch, dass du Staub bist und wieder zum Staub zurückkehren wirst”. Und beim Begräbnisritus vernehmen wir die Worte: “Von der Erde bist du genommen, und zur Erde kehrst du zurück. Der Herr aber wird dich auferwecken”. Es stellt sich die Frage, woher denn diese Zerbrechlichkeit unseres Gefässes kommt. Die Antwort darauf gibt uns der Offenbarungsglaube, wonach diese Vergänglichkeit und Zerbrechlichkeit Folgen der Erbsünde sind. Durch die Ursünde verlor der Mensch das Paradies: jenen Garten des gottgefälligen Lebens, der lauteren Liebe, des immerwährenden Glücks. Der Sündenfall brachte den Tod, das Leiden, das Unglück. “Infolge der Erbsünde ist die menschliche Natur in ihren Kräften ge­schwächt, der Unwissenheit, dem Leiden und der Herrschaft des Todes unterworfen und zur Sünde geneigt.”8

 

  1. Der Schatz des wahren Glaubens in zerbrechlichen Gefässen

Es ist gut für uns zu wissen, dass wir nicht die Starken sind. Die leistungsorientierte Gesellschaft, in der wir leben, erwartet den Starken, den Erfolgreichen, den Macher. Selbst im kirchlichen Leben breitet sich da und dort eine Mentalität aus, die – vielleicht unmerklich – der zeitgeistigen Machbarkeit, dem beständigen Leistungsdruck und dem zunehmenden Erfolgsdenken verpflichtet ist. Pastoralpläne, Projektstudien, Strukturreformen und was es sonst noch an vielversprechenden “Wundertüten” geben mag, das alles soll Transparenz, Effizienz und Akzeptanz sichern. Management ist gefragt; Manager sind gesucht. Leistungsausweis soll um Kundschaft werben. Biegt man den religiösen Binnenmarkt nach weltlichen Kriterien zurecht, dann braucht es eigentlich keinen Glauben mehr; dann ist auch Gott aussen vor. Man möchte alles selbst machen, sich selber den Erfolg zuschreiben, alles im Griff haben. In diese materialistisch, hedonistisch, utilitaristisch und relativistisch bestimmte Welt hinein soll nun der Schatz des wahren Glaubens gelangen – entsprechend dem vom Herrn seiner Kirche anvertrauten Auftrag, nämlich das von Gott selbst geoffenbarte und damit vorgegebene Glaubensgut getreulich zu hüten und zu allen Zeiten glaubwürdig zu verkünden. Schon in den frühen Taufkatechesen und schliesslich in den verschiedenen offiziell anerkannten Katechismen hat die Kirche sorgsam den Inhalt des wahren Glaubens so dargelegt, dass dieser als göttlicher Schatz aufscheint, durch den uns die Kenntnis der unerschöpflichen Reich­tümer des Heiles zukommt. Das Licht des wahren Glaubens soll die Menschheit “von der Unwissenheit und der Sklaverei der Sünde befreien und sie so zur einzigen dieses Namens würdigen Freiheit hinführen (vgl. Joh 8,32): zu derjenigen des Lebens in Jesus Christus unter der Führung des Heiligen Geistes hienieden, und im Himmelreich in der Fülle der Seligkeit der Anschauung Gottes von Angesicht zu Angesicht (vgl. 1 Kor 13,12; 2 Kor 5,6-8).”9

Den Schatz des wahren Glaubens, den wir auch als gläubige Menschen in zerbrechlichen Gefässen tragen, zu bewahren und wirksam werden zu lassen, übersteigt unsere bloss menschlichen Kräfte und verlangt nach der Hilfe durch Gottes gnädiges Entgegenkommen. Nur in der Kraft des geschenkhaft übernatürlichen Lebens, das wir zunächst und zuerst durch die heilige Taufe und dann auch durch die anderen heiligen Sakramente empfangen, können wir diesen Schatz aufnehmen. Wenn der Taufbewerber gefragt wird: Was begehrst du von der Kirche Gottes?, antwortet er: Den Glauben. Dass er getauft werden möchte, ergibt sich schon durch seine Anwesenheit beim Taufgeschehen. Was ihm aber die Kirche vermitteln soll und darf, ist die Gnade des Glaubens – und zwar sowohl diese eingegossene göttliche Gabe selbst als auch den vollständigen Inhalt des katholischen und apostolischen Bekenntnisses. So kann der Täufling auf die Frage: Was gewährt dir der Glaube?, die entscheidende Antwort geben: Das ewige Leben.

Weil wir eben nicht die Starken sind, sondern sehr wohl um die Gebrechlichkeit unserer menschlichen Natur wissen, wenn es darum geht, den Schatz unseres wahren Glaubens zu wahren und im Leben fruchtbar zu machen, suchen wir in unserer Schwach­heit die Hilfe und den Schutz beim Offenbarer der Wahrheit und beim Urheber des Lebens selbst: beim Dreifaltigen Gott; denn das Übermass der Kraft kommt von Gott und nicht von uns.10

 

  1. Der Schatz der christlichen Hoffnung in zerbrechlichen Gefässen

Angesichts der vielfältigen Überforderungen im heutigen Lebensstress macht sich bei nicht wenigen Menschen ein Gefühl der Hilflosigkeit und Vergeblichkeit breit. Frustrationen in zwischenmenschlichen Beziehungen, die aufgrund von Treulosigkeit, Wortbrüchigkeit und Verlogenheit immer mehr vorkommen, Frustrationen in gesellschaftlichen Umständen, in denen orientierungslos, planlos und ziellos dahingelebt wird, Frustrationen in privaten und öffentlichen Bereichen, wo es an Zukunftsperspektiven und wirklicher Sinnerfüllung fehlt, sind gleichsam vorprogrammiert. Auch hier wird deutlich, dass ein Leben ohne Gott und ohne Vertrauen in Gottes Vorsehung letztlich den Menschen auf sich selbst zurückwirft und ihn – mag er es wahrhaben wollen oder nicht – in seiner Erbärmlichkeit und Einsamkeit belässt. Frustrierte Menschen, die keinen Halt in Gottes liebender Zuwendung suchen und finden wollen, fallen leicht in Verzweiflung; sie verlieren oft auch unmerklich das Selbstvertrauen; sie erwarten dann nichts mehr von sich selbst, weil sie ohne Gottvertrauen allem, ja sich selbst misstrauen. Das macht mutlos und kraftlos zugleich. Eine andere Art, mit Frustration fertigwerden zu wollen, ist die Flucht in verschiedene Süchte: Alkoholismus, Drogenkonsum, Sexismus, Pornographie, um nur einige der häufigen Laster zu nennen. Gerade in solchen Zusammenhängen erfährt der Mensch, wie sehr er ein zerbrechliches Gefäss ist. Er mag es zugeben oder auch nicht: Es ist sehr schwer, von suchtbedingten Abhängigkeiten frei zu werden. So muss sich manch einer als hoffnungsloser Fall vorkommen oder anderen als solcher gelten.

Die christliche Hoffnung beruht auf einem ganz anderen Fundament als jedes noch so schätzenswerte menschliche Hoffnungsfünkchen. Für den Gläubigen ist Gott der Grund der Hoffnung, der sogar zur Hoffnung wider alle Hoffnung11 fähig macht. Hoffnung ist sozusagen eine Grundstimmung im Leben eines Gottgläubigen. Schon im Alten Bund leuchtet die Hoffnung als eine grundlegende existentielle Haltung auf. So lesen wir etwa beim Psalmisten die schönen Worte: “Herr, mein Gott, du bist ja meine Zuversicht, meine Hoffnung von Jugend auf. Vom Mutterleib an stütze ich mich auf dich, vom Mutterschoss an bist du mein Beschützer; dir gilt mein Lobpreis allezeit.”12 Paulus ist ein überzeugter und überzeugender Hoffnungsapostel, wenn er etwa im Römerbrief äussert: “Gerecht gemacht aus Glauben, haben wir Frieden mit Gott durch Jesus Christus, unseren Herrn. Durch ihn haben wir auch Zugang zu der Gnade erhalten, in der wir stehen, und rühmen uns unserer Hoffnung auf die Herrlichkeit Gottes. Mehr noch, wir rühmen uns ebenso unserer Bedrängnis; denn wir wissen: Bedrängnis bewirkt Geduld, Geduld aber Bewährung, Bewährung Hoffnung. Die Hoffnung aber lässt nicht zugrunde gehen; denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist.”13  Auch wenn wir den reichen  Scha­tz der christlichen Hoffnung persönlich in zerbrechlichen Gefässen tragen, so vergessen wir doch nie den Glanz auf dem Antlitz Christi, auf dem die Zeichen des Leidens bereits im Licht der Erlösungsherrlichkeit strahlen. Wir begnügen uns also im Blick auf ihn nicht mit einem blossen Hoffnungsschimmer und lassen uns schon gar nicht täuschen von irgend einem weltlichen Hoffnungsglimmer.

 

  1. Der Schatz der göttlichen Liebe in zerbrechlichen Gefässen

Kaum ein anderes Wort ist so häufig in aller Munde wie das Wort “Liebe”, so dass man schon von einem abgegriffenen Begriff sprechen könnte. Zumindest strapaziert man dieses Wort dermassen, dass dessen Inhalt nicht selten bis zur Unkenntlichkeit entstellt erscheint. Allermeist ist der Begriff emotional, sentimental und erotisch besetzt. Liebe ist dann ein Ausdruck des subjektiven Gefühls, der momentanen Stimmung, der auf Reiz ausgerichteten Empfindung. Sie beruht vielfach auf blosser Sympathie, auf der Wahrnehmung eines bestimmten Flairs, auf einer äusseren Attraktivität, bei welcher Stil, Formen, Farben, Gesten, Kleidung und dergleichen eine Hauptrolle spielen. Da hier Modeerscheinungen massgebend sind, hörst du mitunter schon bei Kindern und Jugendlichen die Klage: Mich mag niemand, weil ich so oder so aussehe. Auf mich schaut niemand, weil ich nicht einem bestimmten Model entspreche. Mich beachtet niemand, weil ich zu wenig modisch daherkomme. Was sagen wir solchen Menschen – nicht selten sind es jüngere Menschen, oft Mädchen und junge Frauen? Es nützt gewiss nichts, ihnen zu raten, sich einem bestehenden Trend anzupassen, um beliebt zu sein, um anerkannt zu werden, um gut ins Bild zu kommen. Das würde nur den Teufelskreis der Selbstverliebtheit und Selbstbespiegelung verstärken. Nein; sagen wir ihnen etwas ganz anderes: Du bist so, wie du bist, von Gott gewollt, von Gott geliebt, von jeher sein schöpferischer Gedanke. Du bist, wenn du Glauben hast, auch geliebt und umsorgt von deinem Schutzengel, der dir bei der Taufe als Freund und Begleiter zugeteilt wurde. Du bist geliebt von deinen Namenspatronen und von deinen Freunden und Freundinnen im Himmel, also von den Heiligen. Sie, die in der Anschauung Gottes sind, mögen dich mehr als jeder Mensch auf Erden und treten bei Gott für dich ein in deinen kleinen und grossen Anliegen. Du bist geliebt von deinen Angehörigen, die dir im Glauben vorangegangen sind und – ob noch am Reinigungsort oder schon im Himmel – für dich da sind. Ruf sie an und bitte sie um ihre Hilfe. Du bist geliebt hoffentlich auch von deinen Eltern, Geschwistern und Erziehern, von deinen Freunden und Freun­dinnen, auch wenn sie es dir vielleicht nicht oder nur ungenügend zeigen. Eines ist sicher: Wer glaubt, ist nie allein. Und du kann­st auch sicher sein, dass die Kirche, zu der du gehörst, dich liebt und täglich für dich betet. Hast du schon einmal daran gedacht, dass dem so ist, als du meintest, nicht beliebt und nicht geliebt zu sein?

 

Es ist wahr: Wir Menschen tragen den Schatz der göttlichen Liebe in zerbrechlichen Gefässen, weil wir oft eigensinnig, eigensüchtig, eigenwillig sind. Gott mutet uns trotzdem zu, dass wir seine Liebe in unseren zerbrechlichen Gefässen tragen. Gott “ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott, und Gott bleibt in ihm.”14 Und die Liebe jeder blossen Sentimentalität und Emotionalität enthebend, schreibt der Lieblingsjünger Jesu: “Denn die Liebe zu Gott besteht darin, dass wir seine Gebote halten. Seine Gebote sind nicht schwer.”15 Der Schatz der göttlichen Liebe, den wir in zerbrechlichen Gefässen tragen, kann sich also nicht im rein Gefühlshaften erschöpfen, sondern muss darüber hinaus – weil den Geboten Gottes verpflichtet – zum Grund und Inhalt der Lebensgestaltung werden.

Das Mädchen, über alle Ohren verliebt, zeigt schon in eine gute Richtung, wenn ihm das Wort Jesu gefallen hat: “Wo dein Scha­tz ist, da ist auch dein Herz.”16 Nur muss es erkennen, dass damit nicht einfach das geliebte “Schätzchen” gemeint ist; es sei denn, dieses würde zum wahren Schatz, der in den Himmel zu führen geeignet ist. Wenn Menschen nämlich sich gegenseitig helfen, durch ein gottgefälliges Leben in den Himmel zu kommen, dann haben sie erkannt, welcher gottgegebene Schatz sie füreinander sind. Ein solcher gegenseitiger Schatz zu sein, ist nicht einfach menschliches Machwerk, sondern bedarf der liebenden Zuwendung Gottes selbst; denn Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott, und Gott bleibt in ihm.

 

Wir alle wollen Gott um die Gnade bitten, dass wir nie den Schatz des wahren Glaubens, den Schatz der christlichen Hoffnung und den Schatz der göttlichen Liebe verlieren. Auch wenn wir uns als zerbrechliche Gefässe betrachten und erleben, dürfen wir mit dem Beistand Gottes darauf vertrauen, dass unser Leben im wahren Glauben, in der christlichen Hoffnung und in der göttlichen Liebe gelingt. Dazu hilft uns besonders die selige Jungfrau und Gottesmutter, beten wir doch beim Rosenkranz jene drei Ave Maria, in denen wir an Jesus die Bitte um die Mehrung des wahren Glaubens, die Stärkung der christlichen Hoffnung und die Entflammung der göttlichen Liebe richten. Amen.

 

Schellenberg am Gedenktag Unserer Lieben Frau von Lourdes, 11. Februar 2019                                                 

✠ Wolfgang Haas, Erzbischof von Vaduz

 

1 Mt 6,21; vgl. auch Lk 12,34

2 2 Kor 4,6-7

3 2 Kor 4,8-10

4 Vgl 2 Kor 4,1-2

5 Sowohl im griechischen Urtext als auch in der lateinischen Übersetzung ist von irdenen bzw. tönernen Gefässen die Rede.

6 Gen 2,7

7 Vgl. Jes 29,16; 41,25; 45,9; 64,7; auch Ps 2,9; Sir 33,13; Jer 18,1-6; Röm 9,21

8 Katechismus der Katholischen Kirche (KKK) Nr. 418

9 Johannes Paul II., Apostolische Konstitution “Fidei depositum” vom 11. Oktober 1992, Schluss-Satz

10 Vgl. 2 Kor 4,7

11 Vgl. Röm 4,18

12 Ps 71,5-6

13 Röm 5,1-5

14 1 Joh 4,16b

15 1 Joh 5,3

16 Mt 6,21