Hirtenbrief zur Fastenzeit 2015

Traut nicht jedem Geist! (1 Joh 4,1)

Hirtenbrief zur Fastenzeit 2015 von Msgr. Wolfgang Haas, Erzbischof von Vaduz

(Der Hirtenbrief ist am 1. Fastensonntag, 22. Februar 2015, in allen Gottesdiensten vorzulesen. Er kann auch auf zwei Fastensonntage verteilt vorgetragen werden. Zur Veröffentlichung in der Presse ist er vom 23. Februar 2015 an freigegeben.)

Liebe Brüder und Schwestern im Herrn!

Seit nun schon bald 25 Jahren richte ich als Diözesanbischof an die meiner pastoralen Sorge anvertrauten Menschen meine Hirtenbriefe. Sie werden in den Gottesdiensten verlesen und verschiedentlich auch in schriftlicher Form veröffentlicht. Das Echo darauf ist - soweit feststellbar - nicht sonderlich gross. Das könnte mutlos und sprachlos machen, zeigt jedoch zugleich auf, wie schwierig es heute ist, den Menschen in unseren Breiten - in den sogenannten Wohlstandsländern - den wahren Glauben zu vermitteln. Wie bei allen, die den Dienst der Verkündigung in Wort und Schrift, in Predigt und Katechese, in vielfältigen Möglichkeiten direkter oder medialer Kommunikation erfüllen, tröstet die Tatsache, dass nur Gott in die Herzen der Menschen sieht, an welche die Botschaft der göttlichen Offenbarung und die darauf beruhende Lehre der Kirche gelangen.

Mit unseren Hirtenschreiben stehen wir Bischöfe gleichsam in der Tradition der neutestamentlichen Apostelbriefe. Diese ent-halten, oft veranlasst durch konkrete Probleme in den christ­lichen Urgemeinden, bleibend gültige Glaubensunterweisungen, verpflichtende Belehrungen und Ermahnungen für das moralische Verhalten in allen Zeiten und geistlich auferbauende Erklärungen als Ermutigung zum tapferen Glaubenszeugnis. Paulus bringt es gewissermassen auf den Punkt, wenn er an einen seiner Schüler schreibt: “Jede von Gott eingegebene Schrift ist auch nützlich zur Belehrung, zur Widerlegung, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit; so wird der Mensch Gottes zu jedem guten Werk bereit und gerüstet sein.”1 Ziel der Glaubensunterweisung ist nach einem Wort des Völkerapostels “Liebe aus reinem Herzen, gutem Gewissen und ungeheucheltem Glauben”2. Paulus fügt allsogleich hinzu: “Davon sind aber manche abgekommen und haben sich leerem Geschwätz zugewandt. Sie wollen Gesetzeslehrer sein, verstehen aber nichts von dem, was sie sagen und worüber sie so sicher urteilen.”3

Aus der Fülle geistlicher und moralischer Unterweisungen durch die dem gekreuzigten und auferstandenen Herrn Jesus Christus so nahestehenden Apostel wollen wir diesmal etwas aufgreifen, was besonders in unseren Tagen von grösster Bedeutung ist. Es geht um eine grundlegende Fähigkeit, die einem wahren Christen eigen sein muss; es geht um die Tugend der Unterscheidung der Geister. Im ersten Johannesbrief stehen die Worte: “Liebe Brüder, traut nicht jedem Geist, sondern prüft die Geister, ob sie aus Gott sind; denn viele falsche Propheten sind in die Welt hinausgezogen. Daran erkennt ihr den Geist Gottes: Jeder Geist, der bekennt, Jesus Christus sei im Fleisch gekommen, ist aus Gott. Und jeder Geist, der Jesus nicht bekennt, ist nicht aus Gott. Das ist der Geist des Antichrists, über den ihr gehört habt, dass er kommt. Jetzt ist er schon in der Welt.”4

Es gehört zu den bitteren Erfahrungen, auch in so manchen Bereichen unseres kirchlichen Lebens, dass nicht nach dem Geist der Wahrheit und nach dem Geist des Irrtums gefragt wird, sondern vielmehr Überlegungen der Opportunität und der Anpassung an den Zeitgeist im Vordergrund stehen. Bei einer Mentalität der Dialogeuphorie, der Konsenssucht und des Harmoniestrebens sind Fragen nach Wahrheit und Irrtum stossend und unerwünscht. Sie sind sogar verpönt und verdrängt. Die Diktatur des Relativismus macht es den Verkündern und Verteidigern der Wahrheit und den Entlarvern und Bekämpfern des Irrtums schwer.

Zweifellos lohnt es sich daher immer, unser besonderes Augenmerk auf die Unterscheidung der Geister zu lenken. Ohne diese Geistesgabe, die zur beständigen Aufgabe wird, gelingt es nicht, in den Irrungen und Wirrungen unserer Zeit jene Orientierung zu finden und zu behalten, die für ein gottgefälliges Leben ausschlaggebend ist. Der “Oberverwirrer”, der stets alles durcheinander zu bringen und gegeneinander aufzubringen versucht, schläft bekanntlich nicht. Der Teufel, ursprünglich von Gott als guter Geist geschaffen, hat sich durch seinen Stolz und seinen Ungehorsam von Gott für immer getrennt und ist als böser Geist zusammen mit seinem dämonischen Anhang zum Gegenspieler Gottes geworden - zum Vater der Lüge und zum Menschenmörder von Anbeginn.5 - Vom Widersacher und seiner satanischen Verführungskunst spric­ht Papst Franziskus schon von Beginn seines Pontifikates an des öfteren, was freilich nicht jene Medienwirksamkeit erlangt, wie es bei vielen seiner anderen Äusserungen und Gesten der Fall ist.

  1. Der gute Geist des Gehorsams und der böse Geist des Ungehorsams

Wir alle kennen es: Verbote haben schon für Kinder und Jugendliche etwas Verlockendes an sich. Zu Verstössen dagegen reizen sie Menschen jeden Alters. Das beginnt schon im Paradies. Da stehen in der Mitte des Gartens Eden der Baum des Lebens und der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse.6 Gott verbietet dem Menschen, von diesem Baum der Erkenntnis von Gut und Böse zu essen, und macht auf die Folge des Zuwiderhandelns aufmerksam: Dann wirst du sterben.7 Das Verbot ist klar ausgesprochen; die Konsequenz des Verstosses gegen dieses Gebot ist klar definiert.

Nachdem Gott die Ureinsamkeit des Menschen durch die Erschaffung der Frau und durch die Bindung des Mannes an sie aufgehoben hat, sieht die Schlange - Sinnbild für den hinterhältigen bösen Gegenspieler Gottes - die Stunde für gekommen, den gottebenbildlichen Menschen zu Fall zu bringen. Es kommt zum ersten Dialog, von dem die Heilige Schrift be-richtet: zum verhängnisvollen Zwiegespräch des Teufels mit der Frau.8 Das Ergebnis dieser verführerischen Unterredung ist der erste Akt des menschlichen Ungehorsams: der Griff nach der verbotenen Frucht. Diese Ursünde schreibt sich von da an in die Mensch­heitsgeschichte ein und findet ihre Überwindung erst durch die Menschwerdung Gottes aus der Jungfrau Maria, die in ihrem verheissungsvollen Dialog mit dem Erzengel Gabriel ihr gehorsames Ja zur frohen Botschaft spricht.9 So ist Maria die neue Eva, die uns den neuen Adam, Jesus Christus, gebiert.

Durch das vom Erlöser der Menschen gestiftete Sakrament der Taufe wird bei denen, die zum Glauben gekommen sind, die Erbschuld abgewaschen. Was bleibt, sind gewisse Folgen der Erbsünde: die Sterblichkeit des Menschen, die verschiedenen Formen des Leidens, die Verdunkelung des Verstandes, die Schwächung des Willens, die Neigung zum Bösen. Paulus lässt uns die Zusammenhänge tiefer verstehen, wenn er schreib­t: “Durch einen einzigen Menschen kam die Sünde in die Welt und durch die Sünde der Tod, und auf diese Weise gelangte der Tod zu allen Menschen, weil alle sündigten. ... Wie es also durch die Übertretung eines einzigen für alle Menschen zur Verurteilung kam, so wird es auch durch die gerechte Tat eines einzigen für alle Menschen zur Gerechtsprechung kommen, die Leben gibt. Wie durch den Ungehorsam des einen Menschen die vielen zu Sündern wurden, so werden auch durch den Gehorsam des einen die vielen zu Gerechten gemacht werden.”10 Das verdanken wir der ungeschuldeten Initiative der göttlichen Barmherzigkeit.

Der echte Gehorsam stammt stets vom guten Geist. Er entspricht dem Geist Jesu Christi, von dem es heisst: “... er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz.”11 Wenn wir diesem Geist und Beispiel des Gehorsams Jesu folgen, werden sich Einmütigkeit und Eintracht unter uns einstellen; es werden falscher Ehrgeiz und widerliche Prahlerei weichen. Der Gehorsam Gott gegenüber führt auch zum wahren gegenseitigen Gehorsam unter uns Menschen; denn wir werden dann nicht nur auf unser eigenes Wohl bedacht sein, sondern auch auf dasjenige der anderen. Der gute Geist des Gehorsams entspricht dem Kosmos, also der geordneten Welt, wie sie Gott gewollt und geschaffen hat. Der böse Geist des Ungehorsams entspricht hingegen dem Chaos, also der Unordnung, wie sie der teuflische Versucher und Verderber will, der mit seinem dämonischen Anhang nicht gehorchen und nicht dienen wollte und so die Gemeinschaft mit Gott verlor. “Den guten Geist begleiten immer Klugheit und geordnete Liebe. Der Geist, der zum Übermass antreibt und Unordnung verursacht und unklug ist, ist böse.” - So sagt es ein grosser Lehrer des geistlichen Lebens.12 Der böse Geist stiftet fortwährend zum Ungehorsam an. Wo daher Ungehorsam gegen Gott und seine Gebote herrscht, ist der böse Geist am Werk und zugleich entlarvt. Lehrmeister des geistlichen Lebens haben immer wieder darauf hingewiesen, dass eines der Merkmale des bösen Geistes die Widersetzlichkeit und die Verweigerung des Gehorsams auch gegenüber jenen Vorgesetzten sind, die das Rechte wollen und das Gottgefällige verfügen. Vom heiligen Bruder Klaus stammt das beherzigenswerte Wort: “Gehorsam ist die grösste Ehre, die es im Himmel und auf Erden gibt, weshalb ihr trachten müsst, einander gehorsam zu sein.”13

  1. Der gute Geist der Demut und der böse Geist des Hoch­muts

Ein Sprichwort sagt: “Hochmut kommt vor dem Fall”; und eine andere Redewendung lautet: “Dummheit und Stolz wachsen auf einem Holz”. Der gute Geist der Demut hängt durchaus mit dem guten Geist des Gehorsams zusammen. Ebenso hat es der böse Geist des Hochmuts mit dem bösen Geist des Ungehorsams zu tun. Fragt man nämlich beim Ungehorsam des ersten Menschenpaares nach dem tieferen Grund seines Verhaltens, so kann die Antwort darauf nur heissen: Der Grund ist der Hochmut. Die verführerische und hinterhältige Schlange selbst weist mit ihrer Lügentaktik in diese Richtung, wenn sie über die verbotenen Früchte sagt: “Gott weiss vielmehr: Sobald ihr davon esst, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse.”14 Dieser Verlockung, Gott gleich werden zu können und geradezu göttliche Weisheit zu erlangen, konnte der Mensch in einer satanischen Anwandlung des Hochmuts, der Überheblichkeit und des Stolzes nicht widerstehen. Der böse Geist löst immer Hochmut, Überheblichkeit und Stolz aus, ob nun in offenkundiger oder in versteckter Form. Ein besonders auffälliges Merkmal des bösen Geistes ist also entweder ein offenbarer Hochmut oder eine geheuchelte Demut, die nicht weniger zur Eitelkeit verleitet. Ein Experte15, wenn es um die Unterscheidung der Geister geht, äussert sich darüber so: “Naht der Teufel ohne Maske, so kann er, als Vater des Stolzes, in unserem Herzen keine anderen Gefühle erregen als Gefühle der Eitelkeit, der Aufgeblasenheit und des stolzen Selbstgefallens, und keine anderen Begierden als Begierden nach Ehren, Ruhm, hohen Stellungen, Bevorzugungen und Würden. ... Doch ist der Teufel, wenn er sich unter dieser stolzen und eitlen Gestalt zeigt, weniger gefährlich, weil er so leicht zu erkennen ist. Mehr zu fürchten ist der Teufel, wenn er sich in den Mantel einer falschen Demut hüllt und sich so einschleicht. Dieses ist der Fall, wenn er uns an die begangenen Sünden erinnert oder an die gegenwärtigen Unvollkommenheiten, wenn er uns das Verderben, in dem er gewesen, oder den gegenwärtigen elenden Stand unsere Seele vor Augen hält. Alles dies aber bewirkt er in uns durch ein betrügerisches Licht, welches keine andere Wirkung hat, als dass es die Seele in Unruhe bringt, sie mit Betrübnis, Besorgnis, Verwirrung, Bitterkeit und Kleinmut erfüllt, ja gar oft in tiefe Schwermut stürzt. Die unbehutsame Seele wehrt sich nicht gegen diese Gedanken; denn indem sie ob der Erkenntnis ihrer Sünden und Fehler von sich niedrig denkt, glaubt sie, eine tiefe Demut zu besitzen, während sie in Wirklichkeit von der Hölle vergiftet ist. ... Zwischen der göttlichen und der teuflichen Demut herrscht dieser Unterschied, dass die erstere mit Grossmut, die letztere mit Kleinmut verbunden ist. Die erste verdemütigt allerdings und vernichtet zuweilen die Seele beim Anblicke ihres Nichts und ihrer Sünden, doch zu gleicher Zeit erhebt sie dieselbe zum Vertrauen auf Gott, stärkt und kräftigt sie; auch ist sie friedlich, heiter, gelassen und lieblich; und darum erhofft die Seele nicht bloss Verzeihung ihrer Sünden, sondern fasst auch Mut, um durch Busse und andere gute Werke ihre früher begangenen Sünden und gegenwärtigen Fehltritte wiedergutzumachen.”

Die wahre Demut wird gelegentlich als “Königstugend” bezeichnet. Sie ist dies für jeden Getauften in einem ganz tiefgründigen Sinn. Durch die heilige Taufe haben wir am Priestertum Christi, an seiner prophetischen und königlichen Sendung, teil. “Ihr aber seid ein auserwähltes Geschlecht, eine königliche Priesterschaft, ein heiliger Stamm, ein Volk, das sein besonderes Eigentum wurde, damit ihr die grossen Taten dessen verkündet, der euch aus der Finsternis in sein wunderbares Licht gerufen hat. Einst wart ihr nicht sein Volk, jetzt aber seid ihr Gottes Volk; einst gab es für euch kein Erbarmen, jetzt aber habt ihr Erbarmen gefunden.”16 Was wir da im ersten Petrusbrief zugesprochen bekommen, macht uns keineswegs überheblich und hochmütig. Es macht uns vielmehr demütig, weil wir nur zu gut wissen, wie weit wir oft hinter der vollen Verwirklichung dieser unserer Berufung zurückbleiben und wie sehr wir der göttlichen Barmherzigkeit bedürfen. Der gute Geist der Demut lässt sich gerade daran erkennen, dass wir ehrlich eingestehen, in welch hohem Mass wir Aufhol- und Nachholbedarf haben, wenn es darum zu tun ist, die Teilhabe am gemeinsamen Priestertum der Gläubigen im Alltag umzusetzen: durch ein intensives Gebetsleben, durch das geduldige Befolgen der Gebote Gottes und der Kirche, durch den öfteren Empfang des Buss-Sakramentes, durch die getreue Erfüllung der Sonntagspflicht, durch die regelmässige bewusste und tätige Teilnahme am gottesdienstlichen Leben, durch gross­herzige Werke der Nächstenliebe, durch ein von Liebe und Wahrhaftigkeit getragenes Glaubenszeugnis. Vom bösen Geist des Hochmuts kommen alle Vernachlässigungen dieser Grundlagen und Voraussetzungen für ein Leben in und aus der Taufgnade. Der böse Geist des Stolzes führt oft sogar zur gänzlichen Verweigerung der Erfüllung jener Aufgaben, die sich aus der Gabe der Taufe ergeben. Ein Blick in die leeren Bank- und Stuhlreihen unserer Kirchen und ein Hinweis auf die weithin vorhandene Weigerung, in einer guten Beichte das Sakrament der Sündenvergebung empfangen zu wollen, genügen, um zu erkennen, wes Geistes Kind viele, ja allzu viele sind. Hochmut führt eben leicht zum Fall. Wer steht, sehe deshalb zu, dass er nicht falle. Wer gefallen ist, sehe zu, dass er schnell wieder aufstehe. Beides kann nur im Geiste der Demut und im Zusammenwirken mit der Gnade Gottes geschehen. Gott zerstreut, die im Herzen voll Hoch­mut sind; die Demütigen aber erhöht er.17

  1. Der gute Geist der Lauterkeit und der böse Geist der Unlauterkeit

Die Regeln zur Unterscheidung der Geister betreffen auch den heute so gefährdeten und angeschlagenen Bereich der Keuschheit. “Keuschheit bedeutet die geglückte Integration der Geschlechtlichkeit in die Person und folglich die innere Einheit des Menschen in seinem leiblichen und geistigen Sein. Die Geschlechtlichkeit, in der sich zeigt, dass der Mensch auch der körperlichen und biologischen Welt angehört, wird persönlich und wahrhaft menschlich, wenn sie in die Beziehung von Person zu Person, in die vollständige und zeitlich unbegrenzte wechselseitige Hingabe von Mann und Frau eingegliedert ist. - Die Tugend der Keuschheit wahrt somit zugleich die Unversehrtheit der Person und die Ganzheit der Hingabe.”18­ - So lehrt es uns der Katechismus. Man kann gerade heute nicht genug betonen, dass die Tugend der Keuschheit den Menschen in seiner leib-seelischen Ganzheit betrifft. Sie anerkennt die göttliche Ordnung, wie sie vom Schöpfer in die Natur des Menschen eingeschrieben ist. Der Schöpfergott hat den Menschen als Mann und Frau erschaffen - nach seinem Bild und Gleichnis.19 Diese Abbildlichkeit bezieht sich auf die Geistnatur des Menschen, aber auch darauf, dass Gott den Menschen in der Beziehung von Mann und Frau wollte und dass er diese schöp­fungsgemässe Verbindung so wollte, dass sie auf Ergänzung und Frucht­barkeit angelegt ist.20

Die Geschlechtskraft ist also von Gott gegeben und besitzt eine ihr innerlich eigene Ausrichtung. Diese Gabe ist mit der einem göttlichen Ge­schenk zukommenden Verantwortung zu betrachten und zu behandeln. Damit ist klar, dass der gute Geist der Keuschheit in der Geschlechtlichkeit des Menschen nicht eine instinkthafte und triebgesteuerte Wirklichkeit sieht, sondern eine solche, die den Leib von der Geistnatur des Menschen her zu begreifen versteht. Die mensch­liche Sexualität steht somit unter der moralischen Kontrolle von Verstand und Willen. Sie steht unter dem Schu­tz der Schamhaftigkeit und verlangt Scham­haftigkeit. “Diese ist ein wesentlicher Bestandteil der Mässigung. Die Schamhaftigkeit wahrt den Intimbereich des Menschen. Sie weigert sich zu enthüllen, was verborgen bleiben soll. Sie ist auf die Keusch­heit hingeordnet, deren Feingefühl sie bezeugt. Sie lenkt Blicke und Gesten entsprechend der Würde der Menschen und ihrer Verbundenheit.”21 Auch hier ist ein Rückbezug auf den Anfang der Erschaffung des Menschen lehrreich. Denn vor dem Sündenfall waren Mann und Frau nackt, “aber sie schämten sich nicht voreinander.”22 Nach dem Sündenfall ändert sich das. So heisst es: “Da gingen beiden die Augen auf, und sie erkannten, dass sie nackt waren. Sie hefteten Feigenblätter zusammen und machten sich einen Schurz.”23 Nun wird Schamhaftigkeit für den Menschen zu einem ständigen Bemühen, den guten Geist der Lauterkeit zu pflegen und nicht dem bösen Geist der Unlauterkeit anheimzufallen.

In der Allerheiligenlitanei bitten wir unseren Herrn Jesus Chri­stus, er möge uns befreien vom “Geist der Unlauterkeit”24. Das ist eine sehr harmlose Übersetzung des lateinischen Originals.25 Hier meint dieser Begriff die schwere Sünde der Unzucht. Dazu lesen wir in einem Brief des Apostels Paulus: “Das ist es, was Gott will: eure Heiligung. Das bedeutet, dass ihr die Unzucht meidet ... .”26 Und der Völkerapostel wird noch deutlicher, wenn er sagt: “Täuscht euch nicht! Weder Unzüchtige noch Götzendiener, weder Ehebrecher noch Lustknaben, noch Knabenschänder, noch Diebe, noch Habgierige, keine Trinker, keine Lästerer, keine Räuber werden das Reich Gottes erben. Und solche gab es unter euch. Aber ihr seid reingewaschen, seid geheiligt, seid gerecht geworden im Namen Jesu Christi, des Herrn, und im Geist unseres Gottes.”27 Wenn wir diese apostolische Mahnung gerade auch heute ernstnehmen, gibt es wahrlich nichts zu lachen. Wir leben in einem Umfeld, in der die Schranken der Schamhaftigkeit weithin niedergerissen sind und in dem die Rede von der Keusch­heit bei vielen nur noch ein müdes Lächeln auslöst, ja sogar Spott und Hohn erntet.

Der gute Geist der Lauterkeit - also der Geist des reinen Herzens - ist jedoch zu allen Zeiten auf Schamhaftigkeit, Keuschheit, Zucht und Ordnung bedacht. Er widersteht jenem “Geist der Weltlichkeit”, der nicht nur den Missbrauch des Leibes und seiner Ge­schlechtlichkeit beinhaltet, sondern auch vielfältige Formen der geistigen Prostitution. Der böse Geist der Unlauterkeit - also der Geist der Unreinheit, der Unschamhaftigkeit und der Unkeuschheit - befällt ohnehin zunächst unser Denken, unser Empfinden, unsere Vorstellungen und Phan-tasien, bevor er zu unmoralischen Handlungen verleitet und drängt. Der heilige Ignatius von Loyola gibt in seinen Geistlichen Übungen28 einen klaren Hinweis: “Denen, die von einer Todsünde zur anderen schreiten, pflegt der böse Feind gewöhnlich scheinbare Freuden vor Augen zu führen, indem er bewirkt, dass sie sich sinnliche Genüsse und Lüste vorstellen, damit er sie umso mehr in ihren Lastern und Sünden erhalte und weiterführe. Der gute Geist hingegen befolgt bei solchen Personen das entgegengesetzte Verfahren, indem er sie ständig beunruhigt und in ihnen durch die innere Stimme der Vernunft Gewissenbisse erregt.”

Die Stimme des Gewissens zu vernehmen, wird uns heutigen Menschen ziemlich schwer gemacht. Da sind die vielen flüchtigen Bilder und Eindrücke, die vor unsere Augen treten. Da sind die vielen lauten Töne und Geräusche, die unsere Ohren betäuben. Da sind die ständigen Ereignisse und Anlässe, die unsere Kräfte überbeanspruchen. Da sind die vielen Meinungen und Ansichten, die den Menschen verwirren. Da ist so vieles, was uns von jener stillen Beschaulichkeit abhält, die notwendig wäre, um die Stimme Gottes in unserem Inneren zu vernehmen. Die Stimme des Gewissens, im Schweigen hörbar, würde uns nämlich durchaus das in Erinnerung bringen, was der Völkerapostel in die Worte fasst: “Hütet euch vor der Unzucht! Jede andere Sünde, die der Mensch tut, bleibt ausserhalb des Leibes. Wer aber Unzucht treibt, versündigt sich gegen den eigenen Leib. Oder wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch wohnt und den ihr von Gott habt? Ihr gehört nicht euch selbst; denn um einen teuren Preis seid ihr erkauft worden. Verherrlicht also Gott in eurem Leib!”29 Ist das nicht eine schöne und starke Motivation, um die Verstösse gegen die Schamhaftigkeit und gegen die Keuschheit zu vermeiden und durch ein vom guten Geiste der Lauterkeit bestimmtes Leben Gott die Ehre zu geben? Ist das nicht ein mächtiger Ansporn für junge Menschen, gegen die beständige Verführung durch den bösen Geist der Unreinheit und durch dessen willfährige Handlanger in unserer Gesellschaft mehr und mehr immun zu werden?

Der Appell “Traut nicht jedem Geist30 ist ein notwendiger und stets aktueller Aufruf zur Unterscheidung der Geister - zur Unterscheidung des guten Geistes des Gehorsams vom bösen Geist des Ungehorsams, zur Unterscheidung des guten Geistes der Demut vom bösen Geist des Hochmuts, zur Unterscheidung des guten Geistes der Lauterkeit vom bösen Geist der Unlauterkeit. Mit Hilfe des Heiligen Geistes wird es auch dem heutigen Menschen gelingen, dem guten Geist zu folgen und dem bösen Geist zu widerstehen. Maria, die Braut des Heiligen Geistes, ist bei all unserem Bemühen um den echten Gehorsam, um die wahre Demut und um die aufrichtige Lauterkeit die machtvolle Fürbitterin. Ihrer mütterlichen Begleitung vertrauen wir uns gerne an und lassen uns durch sie zu ihrem göttlichen Sohn Jesus Christus führen. Amen.

Schellenberg, am Gedenktag des hl. Thomas von Aquin, 28. Januar 2015

✠ Wolfgang Haas, Erzbischof von Vaduz

 

1           2 Tim 3,16-17

2           1 Tim 1,5

3           1 Tim 1,6-7

4           1 Joh 4,1-3

5           Vgl. Joh 8,44

6           Vgl. Gen 2,9

7           Vgl. Gen 2,17

8           Vgl. Gen 3,1-6

9           Vgl. Lk 1,26-38

10         Röm 5,12; 18-19

11         Phil 2,8

12         Kardinal Johannes Bona (1609-1674) in seinem Buch “De discretione spirituum” (Brüssel 1671)

13         Aus einem Dankesbrief (1482) des hl. Niklaus von Flüe (gestorben 1487) an die Berner Ratsherren

14         Gen 3,5

15         Johannes B. Scaramelli SJ (1687-1752) in seinem Werk “Unterscheidung der Geister”

16         1 Petr 2,9-10

17         Vgl. das Magnifikat Marias in Lk 1,46-55

18         Katechismus der Katholischen Kirche (KKK) Nr. 2337

19         Vgl. Gen 1,27

20         Vgl. Gen 2,24 und Gen 1,28

21         KKK Nr. 2521

22         Gen 2,24

23         Gen 3,7

24         Lateinisch: A spiritu fornicationis, libera nos, Domine.

25         “Fornicatio” bedeutet eigentlich “Unzucht”, ja sogar “Hurerei”.

26         1 Thess 4,3

27         1 Kor 6,9-11

28         Ignatius von Loyola, “Regeln für die Unterscheidung der Geister”, Regel 1

29         1 Kor 6,18-20

30         1 Joh 4,1